EurActiv: Vor dem Gipfel des Europäischen Rates im Februar haben Sie gewarnt, die geplante „Notbremse“ sei diskriminierend und lege die Axt an die europäische Freizügigkeit. Ist der Europäische Rat bei seinen Zugeständnissen an die britische Regierung zu weit gegangen?
Alexander Graf Lambsdorff: In dieser Frage ist er eindeutig zu weit gegangen. Hier geht es um eine der vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes, der gerade aus liberaler Sicht der wichtigste Bestandteil der Mechanik der europäischen Integration ist. Wer einer Notbremse bei der Arbeitnehmer-Freizügigkeit zustimmt, wird erleben, dass früher oder später andere auf die Idee kommen, Notbremsen auch bei der freien Erbringung von Dienstleistungen, beim freien Warenverkehr und beim freien Kapitalverkehr zu verlangen – und damit machen wir den Binnenmarkt kaputt.
Damit die Notbremse in Kraft treten kann, müsste die EU-Freizügigkeitsrichtlinie geändert werden, was nur mit der Zustimmung des Europäischen Parlaments möglich ist. Sollte das Parlament das nutzen, um die Vorschläge des Europäischen Rates noch zu überarbeiten?
Ich bin ganz sicher, dass ich jedenfalls einer Änderung der Freizügigkeitsrichtlinie, durch die eine so elementare Grundfreiheit eingeschränkt wird, nicht zustimmen werde. Ich gehe davon aus, dass es bei meiner Fraktion und auch bei EVP und S&D viele Kollegen genauso sehen. Wie sich die anderen Fraktionen positionieren werden, bleibt abzuwarten. Aber ich glaube, als Parlament haben wir auch eine institutionelle Verantwortung für das gemeinsame europäische Interesse, und die kann ja nicht darin bestehen, dass wir dabei helfen, den Binnenmarkt abzuräumen.
Wenn nun der Deal im Nachhinein noch geändert wird, würde das nicht in Großbritannien so wahrgenommen werden, dass die Europäische Union vor dem Referendum Versprechen gemacht hat, die sie nach dem Referendum nicht einhält?
Wer ist hier denn bitte schön „die Europäische Union“? Die Staats- und Regierungschefs haben sich im Rahmen des Europäischen Rates getroffen, aber bei ihrer Vereinbarung handelt es sich in keiner Weise um ein Dokument der Europäischen Union, sondern um einen Text von hybridem Charakter, unspezifiziert und mit völlig unklarer rechtlicher Wirkung. Das Ganze ist im Grunde nichts anders als Handeln auf dem Basar. Die Europäische Union hingegen ist eine Rechtsgemeinschaft, in der es geregelte Zuständigkeiten gibt. Und wenn sich die Briten darauf verlassen, dass ihnen auf dem Basar etwas zugesagt wird, das anschließend in dem sauberen rechtsstaatlichen Verfahren nicht eingehalten wird, dann ist mir das saubere rechtsstaatliche Verfahren für alle Europäer wichtiger und lieber als das Ergebnis eines Basar-Tausches für ein Land alleine.
Ihr Fraktionskollege Dominique Riquet und andere Europaabgeordnete werben inzwischen öffentlich für die Idee eines britischen EU-Austritts. Wäre das womöglich für alle Seiten die beste Lösung?
Als Liberaler möchte ich, dass Großbritannien bleibt. Das Land ist marktwirtschaftlich orientiert, ist für Freihandel, ist eine tolerante Gesellschaft, eine exzellent funktionierende Demokratie. Damit ist es immer auch eine Bereicherung der Europäischen Union. Als Europapolitiker sage ich, natürlich ist Großbritannien ein wahnsinnig mühsames Mitgliedsland. Insofern habe ich ein gewisses Verständnis für den Kollegen Riquet und andere, die Fortschritte bei der europäischen Integration erzielen wollen und wissen, dass Großbritannien manchmal auch dort Fortschritte blockiert, wo sie wirklich sinnvoll wären. Trotzdem: Unter dem Strich, als Deutscher und als Liberaler, sage ich: Mir wäre es lieber, Großbritannien bliebe dabei und würde sich in Zukunft konstruktiv in die europäische Einigung einbringen.
Und Ihre Prognose, wie das britische Referendum am 23. Juni ausgeht?
(lacht) Wenn Sie mir eine Kristallkugel geben, gebe ich Ihnen eine Prognose. Der Ausgang steht Spitz auf Knopf, es ist ausgesprochen knapp und sehr schwierig vorherzusehen – eine eindeutige Prognose wäre da nicht seriös.
Dieser Artikel erschien zuerst bei unserem Medienpartner EurActiv.de.
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