Lasst endlich die Mehrheit sprechen!

Kolumne „Europa im Blick“

, von  Julius Leichsenring

Lasst endlich die Mehrheit sprechen!
Oft sehr langwierig und schwierig sind die Verhandlungen im Europäischen Rat. © Europäische Kommission, 2015

Am kommenden Mittwoch werden die EU Staats- und Regierungschefs zusammenkommen, um eine Lösung für die Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb der Staatengemeinschaft zu finden. Eine Mehrheit befürwortet eine Quotenregelung wie von der Kommission vorgeschlagen. Die Praxis der Einstimmigkeit bremst sie jedoch aus. Dabei sieht der Vertrag von Lissabon Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit vor. Das gilt es nun endlich anzuwenden.

Die Szene ist im Fernsehen meist nur wenige Sekunden lang, doch sie reicht, um jeden Zuschauer klar zu machen: die EU befindet sich im Krisenmodus. Egal ob Griechenland, Ukraine oder Flüchtlingspolitik – das Thema spielt zunächst keine Rolle. Schwarze Limousinen rollen vor das Brüsseler Ratsgebäude, denen jeweils ein Staats- und Regierungschefs der EU entsteigt. An den Rändern des Eingangs stehen säuberlich abgegrenzt eine Schar von Journalisten, Kameramännern und Tonassistenten. Die Politiker treten umrahmt von Bodyguards kurz vor die Kameras, geben mehr oder weniger bedeutungsvolle Dinge von sich und verschwinden im Ratsgebäude.

Am kommenden Mittwoch werden diese Bilder erneut in den Nachrichten zu sehen sein. Diesmal kommen die Staats- und Regierungschefs zu einem EU-Sondergipfel zu der Frage zusammen „Wie umgehen mit dem Zustrom an Flüchtlingen in die EU?“. Das Problem ist akut, ohne Zweifel: Noch nie waren so viele Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Flucht. Laut Schätzungen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen haben 2013 16,7 Millionen Menschen aufgrund von Gewalt, Verfolgung oder Armut ihr Land verlassen – Tendenz steigend. Viele von ihnen sind auf dem Weg in die EU oder befinden sich bereits in einem Mitgliedsstaat. Tatsächlich nehmen aber nur neun der 28 Länder eine nennenswert Anzahl an Flüchtlingen auf – darunter Schweden und Deutschland. Allein hierzulande werden mehr als 800.000, vermutlich sogar eine Million Menschen in diesem Jahr einen Asylantrag stellen.

Bei dieser schieren Masse an Schutzsuchenden ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Aufnahmefähigkeit eines einzelnen Landes kollabiert – vor allem, wenn der Winter vor der Tür steht. Aus einem „Wir schaffen das!“ (Merkel) wurde dementsprechend auch ein „Deutschland führt in diesen Minuten vorübergehend wieder Grenzkontrollen an den Binnengrenzen ein“ (de Maizière) . Ein Signal an die anderen Mitgliedsstaaten, wie der Innenminister versichert. Auch ihm ist bewusst, dass dadurch das Dublin-Verfahren nicht wieder komplett in Kraft gesetzt werden kann. De Maizière geht es vielmehr darum, zu zeigen, dass selbst die größten Errungenschaften der EU wie das Schengener Abkommen durch die Krise zur Disposition gestellt werden.

Auf eine einheitliche Quotenregelung, wie von der EU-Kommission vorgeschlagen, konnten sich die Innenminister der Mitgliedsstaaten bei ihrem Treffen vergangener Woche dennoch nicht einigen. Die osteuropäischen Länder, allen voran Ungarn, aber auch Großbritannien und Dänemark sträuben sich dagegen, sich auf eine Mindestzahl aufzunehmender Flüchtlinge, bemessen an der Einwohnerzahl, Wirtschaftskraft, Arbeitslosenquote und Anzahl bereits aufgenommener Schutzsuchender, festnageln zu lassen.

Nun also wieder ein Krisengipfel, diesmal auf höchster Regierungsebene, mit dem Ziel, ein EU-weit verpflichtendes Umverteilungssystem zu schaffen – lange Gespräche und schwierige Diskussionen inklusive. Währenddessen geht wertvolle Zeit verloren. Dabei ist eine Mehrheit im Rat für das Quotensystem absehbar. Praxis ist es jedoch bisher, dass solch gewichtigen Entscheidungen einstimmig getroffen werden, auch wenn der Lissaboner Vertrag Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit zulässt. Demnach könnten 55 Prozent der Mitgliedsstaaten, die 65 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung umfassen, eine für alle geltende Vereinbarung fassen. Dieses Prinzip gilt es nun endlich anzuwenden, um eine Lösung schnellstmöglich herbeizuführen und die Herausforderung wirksam anzugehen.

Ein solcher Schritt hätte zudem Signalwirkung über das eigentliche Problem hinaus. Es würde zeigen, dass es bei der EU eben nicht nur um Rosinenpickerei und einen Verbund von Staaten mit gleichen wirtschaftlichen Interessen geht. Nein, vielmehr legt die Union den Mitgliedsstaaten auch ein Korsett gemeinsam zu teilender ethischer und moralischer Werte an, die es einzuhalten gilt. Wenn Menschen Schutz suchen, so ist es Aufgabe einer aufgeklärten Zivilisation, diesen auch bestmöglich zu gewähren und den Hilfsbedürftigen Perspektiven im eigenen Land aufzuzeigen.

Gleichzeitig wäre es ein gewichtiger Schritt hin zu einer europäischen Föderation, der eine schnellere und flexiblere Reaktion auf Krisensituationen im Allgemeinen zulässt. Es geht nicht darum, der Diktatur der Mehrheit freien Lauf zu lassen. Die Suche nach Konsens ist berechtigt und wichtig. Doch besonders in humanitären Belangen sollte diese irgendwann an einen Endpunkt gelangen, damit sich die Bilder von Krisentreffen nicht wie in einer Endlosschleife ständig wiederholen.

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