Während die Niederlande ihr Goldenes Zeitalter erlebten, ging es der Kleinstadt Breda zunächst schlecht. Ihre Bewohner*innen litten unter dem Achtzigjährigen Krieg zwischen den Niederlanden und Spanien. 1624/25 kam es zur Belagerung durch spanische Truppen. Als 1648 endlich Frieden herrschte, kehrte jedoch auch in Breda jener Reichtum ein, den die Niederlande im 17. Jahrhundert – dem Goldenen Zeitalter – vor allem durch ihre Stellung als Kolonialmacht erzielten.
Breda, 400 Jahre später: Im März 2017 findet hier ein Wahlkampfauftritt des niederländischen Politikers Geert Wilders, Vorsitzender und einziges Mitglied der rechtspopulistischen Partij voor de Vrijheid (PVV), statt. Es regnet so stark, dass die Tropfen in dicken Fäden auf die Pflastersteine der Fußgängerzone hinabzufallen scheinen. Dennoch haben sich einige Dutzend Menschen im Stadtzentrum eingefunden. Wilders hat viele glühende Anhänger*innen. Als er aus seiner gepanzerten Limousine steigt, ist die Einkaufsstraße im Stadtzentrum abgesperrt. In den Eingängen aller Läden halten Zivilpolizist*innen ihre Pistole bereits in der Hand, um Millisekunden früher abdrücken zu können als mögliche Attentäter*innen. Die Niederlande müssen nach den Attentaten am Rechtspopulisten Pim Fortuyn und dem islamkritischen Filmemacher Theo van Gogh einen dritten Mord solcher Art um jeden Preis verhindern. Auch Wilders wird – unter anderem wegen seiner rechtspopulistischen und islamophoben Positionen – von vor allem islamistischen Gruppen mit dem Tod bedroht. Seine Politik fordert bereits seit 2006 eine Rückkehr zum Gouden Eeuw, zum Goldenen Zeitalter.
Amsterdam Museum versus Wilders und Baudet
Doch zunächst geht die Reise nach Amsterdam in den Herbst 2019: Die Debatte um das Gouden Eeuw eskaliert, als das stadtgeschichtliche Amsterdam Museum beschließt, den Begriff nicht länger zu verwenden. „Das Amsterdamer Museum bemüht sich schon seit Langem darum, für immer mehr Menschen relevant zu sein, und sieht die Aufgabe des Begriffs ‚Goldenes Zeitalter‘ als einen Schritt, um andere Perspektiven auf diese Zeit zu ermöglichen“, heißt es in der Pressemitteilung des Museums. Der Verzicht auf den Begriff sei zudem nur ein Schritt in einem Prozess, an dem das Museum zusammen mit Menschen aus der Stadt seit Jahren arbeite. Es wolle ein Ort sein, an dem sich alle Menschen willkommen fühlen.
Wilders Antwort erfolgt unverzüglich. Auf Twitter schreibt er: „Man kann nicht mehr stolz auf die Niederlande sein wegen dieser geistesgestörten linken Selbsthasser. Sie zerstören die Niederlande mit ihrer falschen politischen Korrektheit. Ich liebe die Niederlande, unsere Kultur und Geschichte, und ich bin sehr stolz auf das Goldene Zeitalter.“ Zur Seite springt ihm ein jüngerer Vertreter der niederländischen Neurechten: Thierry Baudet versucht seit zwei Jahren, Wilders mit seiner Partei „Forum voor Demokratie“ das Wasser im Tümpel der rechtspopulistischen Wählerschaft abzugraben. Baudet erklärt in einem Tweet, dass er das Goldene Zeitalter im Gegensatz zu linken Geschichtshassern liebe, und muss dabei nicht einmal die 280 Zeichen ausreizen, die der Kurznachrichtendienstes erlaubt. „Goldenes Zeitalter. Love it!“, schreibt er.
Historiker und Politikwissenschaftler Koen Vossen von der Universität Nijmegen gilt als einer der erfahrensten Experten für Rechtspopulismus in den Niederlanden und niederländische politische Geschichte. Für ihn setzt heute eine Aufarbeitung des Begriffs des „Goldenen Zeitalters“ ein, die auch Aspekte wie Sklaverei und Gräueltaten der Niederländer*innen in den Kolonien betrachtet. „Unter anderem der indonesische Unabhängigkeitskrieg mit über 100 000 Toten sowie die Sklaverei in den Kolonien wird nun stärker in den Blick genommen", sagt er.
Exkurs: Das Königreich der Niederlande, seine karibischen Gebiete und ihre Beziehungen zur EU heute
Das Königreich der Niederlande besteht aus vier Ländern, von denen die europäischen Niederlande nur eines sind. Aruba, Curaçao und Sint Maarten sind als niederländische Überseegebiete ebenfalls Teil des Königreichs. Drei weitere karibische Inseln sind als besondere Gemeinden wiederum den europäischen Niederlanden zugeordnet, nachdem das Überseegebiet der Niederländischen Antillen 2010 aufgelöst wurde. Beziehungen sowie Zugehörigkeit zur EU, Zahlungsmittel und weitere Bestimmungen sind dabei nicht einheitlich geregelt. Mehr dazu!
Vor allem im 17. Jahrhundert, dem sogenannten „Goldenen Zeitalter“ der Niederlande, entstanden eine ganze Reihe von niederländischen Kolonialgebieten in der Karibik, Südamerika, Afrika, Asien und Ozeanien. Aus jenen in der Karibik wurden im 20. Jahrhundert zunächst die 1954 gegründeten Niederländischen Antillen, bevor dieser Aufbau zu Beginn des 21. Jahrhundert als überholt angesehen wurde und Umstrukturierungen zu einer neuen Einteilung führten.
Bis zum 10. Oktober 2010 bestand des Königreich der Niederlande dabei neben den europäischen Niederlanden aus den Karibischen Inseln der Niederländischen Antillen sowie der Insel Aruba. Aus den Niederländischen Antillen gingen durch Referenden Ende der Nullerjahre die neuen, autonomen Länder Curaçao und Sint Maarten hervor. Die Inseln Bonaire, St. Eustatius und Saba, die sogenannten BES-Inseln, bis dato auch im Land der Niederländischen Antillen eingegliedert, entschieden sich gegen die Autonomie und schlossen sich als sogenannte „besondere Gemeinden“ in der niederländischen Verwaltungsstruktur den europäischen Niederlanden an. Dies brachte neue Privilegien mit sich, aber auch neue Pflichten und gesetzliche Bestimmungen für die drei Inseln. Auch wenn die „Sovereign people party“ in Curaçao weiterhin die Unabhängigkeit fordert, sind darüberhinausgehende Bewegungen gegen die neue Struktur bislang ausgeblieben.
Unterschiedliche Bestimmungen trotz Mitgliedschaft in der EU
Grundsätzlich ist das gesamte Königreich der Niederlande Teil der Europäischen Union und seine Bürger*innen sind EU-Bürger*innen. Trotzdem sind manche Bestimmungen nur für einen Teil der Länder gültig: So sind lediglich die BES-Inseln vollständig niederländischem Recht unterworfen – zum Beispiel in Bezug auf Gesetze zur gleichgeschlechtlichen Ehe, Abtreibung oder Sterbehilfe – und wählen Abgeordnete zum niederländischen Parlament. Sint Maarten, Aruba und Curaçao hingegen gelten als autonome Länder und „Überseeische Länder und Hoheitsgebiete“ gemäß des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AUE). Sie gehören nicht zum Gebiet der Europäischen Union, sind jedoch verfassungsrechtlich mit dem EU-Mitgliedstaat der Niederlande verbunden. In den Römischen Verträgen von 1957 ist für solche Gebiete ein Status der Assoziation vorgesehen. Auch die BES-Inseln haben in der EU-Struktur momentan noch selbigen Status. Die Möglichkeit, sie als „Gebiete in äußerster Randlage“ zu deklarieren, wird jedoch diskutiert. Damit würden sie auch zum Steuer- und Zollgebiet der Europäischen Union gehören.
Verschiedene Währungen, Möglichkeit zum Erasmus-Austausch
Auch wenn alle Bürger*innen der karibischen Gebiete des Königreichs der Niederlande an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen und von Programmen wie Erasmus+ profitieren können, gibt es weitere Unterschiede: So gilt auf den BES-Inseln seit dem 01. Januar 2011 der US-Dollar als Währung, auf Aruba der Aruba-Florin, auf St. Maarten und Curaçao der Antillen-Gulden. Diese Zahlungsmittel sind mit einem festen Wechselkurs an den US-Dollar gekoppelt. Und für Studierende besonders interessant: Durch das Erasmus+-Programm der Europäischen Union können Studierende ein Auslandssemester auf dem europäischen Kontinent machen - und junge Menschen aus der gesamten Union einen Erasmus-Aufenthalt unter Palmen planen. Unter anderem die Universiteit van Aruba bietet solche Austauschplätze an.
„Wilders und Baudet glauben, dass in Holland eine ‚Weg mit uns‘-Kultur herrscht“, erklärt Vossen. „Sie meinen, es gibt einen großen Kulturrelativismus, der alle Kulturen gleichwertig findet und die holländische, christliche Kultur nicht als Leitkultur betrachtet. Ein Aspekt davon ist, dass wir nicht länger auf unsere eigene Geschichte stolz sind und nur noch Scham und Schuld empfinden.“ Das Vorhaben des Amsterdam Museum sei den beiden Rechtspopulisten gerade recht gekommen, meint der Wissenschaftler: „Es ist immer so, dass die beiden ein Beispiel nehmen und es als repräsentativ für ein ganzes gesellschaftliches Klima ansehen. In Wilders und Baudets Augen haben wir eine Elite, die unsere ganze Geschichte und Kultur wegschmeißen will.“
Ein „neues Goldenes Zeitalter“ als Wahlversprechen
2006 gründete Wilders seine eigene Partei und überschrieb sein Wahlprogramm für die anstehenden Parlamentswahlen plakativ mit „Ein neues Goldenes Zeitalter“. Die Partei wolle „den Weg in eine freie und wohlhabende Gesellschaft, in ein neues Goldenes Zeitalter voller Chancen und Möglichkeiten gehen“, heißt es darin. Dieser Plan soll „enorme positive wirtschaftliche Auswirkungen haben: mehr Wirtschaftswachstum und mehr Arbeitsplätze. Davon können alle profitieren: Unternehmer, Arbeitnehmer, Aktive und Nichterwerbstätige.“ Wilders knüpft also vor allem an die wirtschaftliche Blüte des Goldenen Zeitalters an, als sich mit der weltweit in den niederländischen Kolonien und darüber hinaus aktiven „Vereenigde Oostindische Compagnie“, der Niederländischen Ostindien-Kompanie, ein erster Vorläufer von multinationalen Unternehmen gründete und für Wohlstand in den Niederlanden sorgte.
Der Hintergrund seiner Forderungen: Ende der 90er Jahre war in den Niederlanden eine Tendenzwende zu beobachten, welche ein stärkeres Nationalbewusstsein in den Niederlanden einforderte. Mit seinem Wahlprogramm von 2006 sprang Wilders auf genau diese Entwicklung auf: Das „Goldene Zeitalter“ wurde als Zeit der niederländischen Blüte stilisiert – und als verlorene Zeit, an die es wieder anzuknüpfen gilt. Gleichzeitig kam eine zweite Welle von Politiker*innen um die linksliberale Sylvana Simons auf, die argumentierten, in den Niederlanden kenne man die dunklen Seiten seiner Geschichte nicht mehr – unter anderem die des Goldenen Zeitalters. „Sklavenhaltung, die Dekolonisierung, insbesondere der Guerillakrieg in Indonesien, darüber wurde niemals richtig geredet. Das sind die zwei Pole der neuen Identitätspolitik“, so Vossen, „Die eine Seite sagt: Wir brauchen uns nicht zu schämen für unsere Geschichte, wir sollten darauf stolz sein. Auf der anderen Seite eine Gruppe, die sagt: Wir sollen auch die dunkle Seite unserer Geschichte bewältigen.“ Nur in einem Punkt seien sich beide Pole anscheinend einig: Es wird nicht genug über damals gesprochen.
Bewusstsein für die Debatte in den Niederlanden noch niedrig
Heute wird die Debatte in der breiten niederländischen Bevölkerung immer noch nicht deutlich wahrgenommen, analysiert der Historiker: „Das hängt natürlich sehr davon ab, mit wem man spricht. An meiner Universität in Nijmegen finden es die meisten Studenten gut, dass wir jetzt auch die negativen Seiten der Kolonialgeschichte sehen. Aber es gibt auch Leute, die meinen: Jetzt ist alles, was gut war, auf einmal schlecht. Da ist ein Unbehagen mit der neuen politischen Korrektheit.“ Viele wüssten zudem gar nicht, worum es beim Goldenen Zeitalter eigentlich ginge: „Die Niederländer*innen haben nie ein großes historisches Bewusstsein gehabt. Es ist kein Volk, in dem die Geschichte als besonders wichtig empfunden wird. Wenn wir unsere Nationalhelden betrachten, hört die Kenntnis oft schon bei Spinoza, Rembrandt und Willem van Oranje auf.“ Dennoch sieht Vossen die Debatte auf einem richtigen Weg: „In meiner eigenen Schulzeit haben wir nicht viel darüber geredet, was in Indonesien passiert ist, da die niederländischen Veteranen immer noch viel Einfluss hatten.“
Im März 2020 legte der niederländische König Willem Alexander bei einem Staatsbesuch in Indonesien einen Kranz nieder. Zum ersten Mal entschuldigte er sich damit offiziell für das Handeln der Niederlande im indonesischen Unabhängigkeitskrieg. Kritisiert wurde jedoch, dass er sich lediglich für die übermäßige Gewalt der niederländischen Truppen entschuldigte - und nicht für 100 000 Tote oder die Kolonialherrschaft selbst. Auf der anderen Seite löste er mit der Entschuldigung auch Kritik vonseiten der niederländischen Veteranen aus, die ihren Einsatz gewürdigt wissen wollten. Deutlich wird: Die Polarisierung in der Betrachtung der niederländischen Kolonialvergangenheit ist immer noch zu spüren. Und doch war die Kranzniederlegung ein erstes Zeichen der Aufarbeitung. „Ich biete meine Entschuldigung an, im vollen Bewusstsein, dass die betroffenen Familien der Schmerz und die Trauer heute immer noch fühlen“, sagte der niederländische König im indonesischen Jakarta.
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