Nord Stream 2: Europas geopolitische Dauerbaustelle

, von  Agnès Faure , Übersetzt von Sebastian Emde

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Nord Stream 2: Europas geopolitische Dauerbaustelle
Zeremonie zur Eröffnung der Nord Stream Pipeline. Unter anderem Angela Merkel und Dmitri Medwedew, stellvertretender Leiter des Sicherheitsrates der Russischen Föderation. Foto: Kreml / Fotograf*in unbekannt / Creative Commons Lizenz

Nord Stream 2 ist eine Gaspipeline, die Russland durch die Ostsee mit Deutschland verbindet. Sie ist damit eine von mehreren Trassen, über die Gas nach Europa gebracht wird. Nachdem das Bauwerk Anfang September fertiggestellt worden war, sollte es eigentlich Anfang Oktober in Betrieb genommen werden. Doch das 2015 angelaufene Projekt ist bis heute umstritten. Auf der einen Seite stehen die Befürworter*innen, allen voran Deutschland, die die Pipeline nur als wirtschaftliches Projekt verstanden wissen wollen. Auf der anderen Seite stehen die Gegner*innen (vor allem Polen und die baltischen Staaten), die die Pipeline verhindern wollen, um die Gasversorgung der EU zu diversifizieren. Einige Staaten, vor allem ehemalige Ostblock-Staaten, sehen im Scheitern von Nord Stream 2 gar eine Möglichkeit, Russland für seine Menschenrechtsverletzungen und Sicherheitsbedrohungen in Mitteleuropa zu bestrafen. Vor diesem Hintergrund kommt eine Studie des Europäischen Parlaments zu dem Schluss, dass Nord Stream 2 maßgeblich zur Entstehung innereuropäischer wie transatlantischer Spannungen beigetragen hat.

Europa in Abhängigkeit: energiepolitisch …

Trotz seiner bedeutenden geopolitischen Auswirkungen ist das Projekt zunächst einmal ein Mittel zur Deckung europäischer Energiebedarfe. Tatsächlich reichen die europäischen Energieressourcen bei weitem nicht aus, um die Nachfrage zu decken. Daten der Europäischen Kommission zeigen, dass fast die Hälfte des nach Europa importierten Gases aus Russland stammt (im Jahr 2020 waren es 43 %). Es wird erwartet, dass sich dieser Trend fortsetzt, wobei:

„die einheimische Förderung der großen Gasproduzenten – wie den Niederlanden, Großbritannien oder Norwegen – […] rückläufig ist“

- so heißt es auf der offiziellen Projektwebseite, und die Daten der Europäischen Kommission bestätigen dies. „Gleichzeitig bleibt die Nachfrage nach Erdgas weiter stabil, auch aufgrund der geringen CO₂-Emissionen.„Die EU müsse also mehr Gas importieren, wozu die neue Pipeline zumindest teilweise beitragen könnte, indem sie „etwa ein Drittel des zusätzlichen Bedarfs“ decke.

Genauso gut könnte sich der Blick Europas aber auch auf den Mittelmeerraum, insbesondere auf Algerien richten, dessen beträchtliche Gasvorkommen noch nicht voll ausgeschöpft werden. Die immensen Schiefergasvorkommen Algeriens, die seit 2020 genutzt werden, wären eine weitere, mögliche Versorgungsquelle für Europa. Doch Algerien exportiert dreimal so viel Gas in die Türkei als nach Frankreich, was zeigt, wie sehr sich historische Konflikte auf die heutigen Wirtschaftsbeziehungen auswirken können.

... und strategisch

Darüber hinaus haben „Gaspipelines fast immer wichtige geopolitische Auswirkungen, da sie eine langfristige Abhängigkeit zwischen Liefer- und Importländern schaffen“, heißt es in einem Papier des Europäischen Parlaments. Im Fall von Nord Stream ist das Risiko der Abhängigkeit umso besorgniserregender, „da Russland, wie schon die Sowjetunion, in der Vergangenheit Gaslieferungen eingeschränkt hat, um politischen Druck auf die Importeure auszuüben“. Der Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine von 2009 ist ein gutes Beispiel dafür, wie Moskau mit dem Hebel der Energiepolitik etwa die Verhandlungen zwischen Kiew und Brüssel über ein Assoziierungsabkommen konterkarieren kann. Da es an Spannungen zwischen Moskau und den europäischen Hauptstädten nicht mangelt, ist das Risiko einer solchen politischen Erpressung nicht auszuschließen.

Kollateralschaden für die Ukraine

Dass heute neue Trassen für den Gastransport gebaut werden, hängt auch damit zusammen, dass die ukrainische Trasse immer unzuverlässiger wird. Einerseits liegt das an ihrem Alter und ihrem schlechten Zustand. Allein die Renovierung der ukrainischen Pipeline-Infrastruktur würde laut Europäischem Parlament mindestens so viel kosten wie die 9,5 Milliarden Euro, die für Nord Stream 2 vorgesehen sind. Andererseits „ist die ukrainische Route anfällig für Spannungen zwischen der Ukraine und Russland“.

Laut einem Bericht des US-Kongresses könnte die Inbetriebnahme der Pipeline durch den damit verbundenen Rückgang der ukrainischen Transiteinnahmen die ukrainische Wirtschaft schwächen vor allem die „strategische Verwundbarkeit der Ukraine gegenüber Russland erhöhen“. Dabei geht es um Einbußen, die von der Forschungsabteilung des Europäischen Parlaments auf „mehrere Milliarden Dollar“ geschätzt werden.

Die Trump-Administration hatte sich gegen das Projekt ausgesprochen und Wirtschaftssanktionen gegen die am Bau der Pipeline beteiligten Unternehmen verhängt. Dies hatte dazu geführt, dass sich mehrere Unternehmen von dem Projekt zurückgezogen haben. Die Regierung Biden ihrerseits hat die Sanktionen aufgehoben und im Juli 2021 ein - ebenfalls umstrittenes - Abkommen mit Berlin geschlossen. Ziel war es, eine geopolitische Instrumentalisierung der Energiefrage zu vermeiden, so wie es in einer gemeinsamen Erklärung deutlich wird: „Sollte Russland versuchen, Energie als Waffe einzusetzen oder neue aggressive Handlungen gegen die Ukraine einzuleiten, wird Deutschland auf nationaler Ebene handeln und auf wirksame Maßnahmen auf europäischer Ebene drängen, einschließlich Sanktionen“. Es bleibt abzuwarten, ob Moskau diese Drohung als ausreichend glaubwürdig einschätzen wird…

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