Die Gefahr einer Personalisierung von Macht
Zunächst stellt vor allem die Personalisierung von Macht ein Risiko dar. In der Tat könnte eine von allen europäischen Bürger*innen gewählte Persönlichkeit – wenn nicht durch die EU-Verträge verhindert – zu persönlichen Abenteuern verleitet werden. In einem Szenario, in dem eine künftige europäische Verfassung von der französischen inspiriert ist, ist eine „jovianische“ Machtausübung gewiss. Zudem verleitet eine solche Direktwahl dazu, die Person und nicht den Inhalt zu wählen. Das Beispiel Frankreichs zeigt, dass der Charakter der Kandidat*innen oftmals ausschlaggebender ist als das jeweilige politische Programm. So verlor François Fillon während der Wahl 2017 viele Wähler*innen aufgrund seiner Skandale und weniger wegen seines Programms, während Jean-Luc Mélenchons eindrucksvolles Ergebnis hauptsächlich seinen charismatischen Auftritten während der TV-Debatten geschuldet war.
Wenn die Show die Ideen ersetzt
Gäbe es solche medialen Auftritte auf europäischer Ebene, markierte dies endgültig die Ablöse der Demokratie der Ideen durch eine Politik der Show. Man stelle sich einen Meister-Demagogen als Kandidaten vor. Es wäre ein Leichtes, derartige Debatten zum jeweiligen Vorteil zu nutzen – letztlich zum Nachteil des Images der EU. Die Sensationslust der Wählerschaft käme Kandidat*innen mit übergroßem Ego zugute, die sich als „Retter Europas“ inszenieren würden, und wäre zum Nachteil jener Gemäßigten, die einen besonneneren Umgang mit Macht pflegen. “Einen Mann zu wählen, sei er auch der beste, anstatt eine Politik, bedeutet (demokratische) Resignation,“ schrieb der ehemalige französische Ministerpräsident Pierre Mendès France 1976. Als einer der größten Kritiker der 5. Französischen Republik prophezeite er den demokratischen Verfall zugunsten einer ungeheuerlichen Personalisierung der Politik Frankreichs. Letzten Endes könnte eine solch gewichtige Wahl eine fast bürgerkriegsähnliche Atmosphäre heraufbeschwören, in der sich zwei extreme Lager gegenüberstehen. Eine personenzentrierte Kampagne könnte eine Situation triggern, in der Ego-Kandidat*innen eher die Massen begeistern wollen anstatt sich tiefgründigen Debatte über politische Ideen hinzugeben.
Machtimbalancen zwischen Parlament und Präsident
Außerdem zöge die Direktwahl eines EU-Präsidenten einen Legitimitätskonflikt mit der anderen gewählten Institution, dem Europäischen Parlament, nach sich. In Anbetracht dessen, dass Europäische Föderalisten traditionell eine Stärkung dieser Institution fordern, wäre unlogisch, das Herz der europäischen Demokratie zum Vorteil einer einzigen gewählten Person – so kompetent und charismatisch sie auch sein mag – zu schwächen. Tatsächlich würde die Wahl eines Präsidenten oder einer Präsidentin die EP-Wahlen weiter degradieren, vor allem wenn erstere zeitlich vor letzterer liegt.
Die Alternative: ein durch ein Wahlkollegium gewählter Präsident in Kombination mit einem parlamentarischen Regime
Da ein Oberhaupt aber zwecks Repräsentation und Identifikation trotz allem benötigt wird, sollte die entsprechende Person indirekt, also durch ein Kollegium aus Parlamentarier*innen und Repräsentant*innen der Mitgliedstaaten, gewählt werden. Das Amt würde von einer durch Unabhängigkeit und tadellose Moral gezeichnete Person bekleidet, einem Präsidenten aller Europäer*innen, und beschränkte sich – um es mit den Worten Charles de Gaulles zu sagen – auf die „Einweihung der Chrysanthemen“. [2] Die wahre politische Macht läge wiederum bei einem den Kommissionspräsidenten ersetzenden Premierminister. Dieser würde auf Basis der EP-Wahlen und somit des Wettkampfes politischer Programme gekürt. Das Mandat sollte kürzer als jenes des Präsidenten bzw. der Präsidentin sein, sodass eine Unabhängigkeit dieser beiden Wahlen gewährleistet ist. Die Union wäre endlich von einer einzigen Persönlichkeit verkörpert, aber das demokratische Leben würde alle Stärken eines parlamentarischen Systems aufweisen, in dem auch die Rolle der Opposition zum Tragen kommt. Auch ohne direkte Personenwahl sah Europa in seiner Geschichte starke politische Führer*innen: Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Angela Merkel, Felipe Gonzalez und sogar Margaret Thatcher sind nennenswerte Beispiele.
Verhängen wir den französischen Präsidentialismus nicht über ganz Europa!
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