Tschechien und die Migration, Teil 1

Politische Ausschlachterei

, von  Aleš Janoušek

Politische Ausschlachterei

Die Tschechische Republik stimmte während der UN-Generalversammlung am 19. Dezember gegen den Globalen Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration. Kurz davor hatte sich Ministerpräsident Babiš auch gegen den UN-Flüchtlingspakt geäußert. Handelt es sich nur um eine weitere Strophe des Protestliedes der Staaten der Visegrad-Gruppe? Wo liegt das tatsächliche Problem in der Gesellschaft? Unser Autor lädt uns zu einer Reise von der Spitze des Eisbergs zu dessen Basis ein.

Die Bilder aus dem Jahr 2014 der in Schlauchbooten wie Nussschalen im Mittelmeer treibenden Geflüchteten haben in der homogenen Gesellschaft Tschechiens eine starke Reaktion hervorgerufen. Zu der Zeit hielten sich ungefähr 450.000 ausländische Personen (inklusive EU-Bürger*innen)temporär oder langfristig in Tschechien auf, die meisten von ihnen aus der Ukraine, der Slowakei, Russland und Vietnam. Der bis dahin gemäßigte Diskurs über Einwanderung verwandelte sich allerdings rasch. Die künstlich geschaffene Stimmung der Angst vor dem Fremden, dem Ungewissen und der Übernahme des Landes durch islamische Horden, die sich als Geflüchtete und Migrant*innen aus Afrika und dem Nahen Osten verkleiden, begünstigte die steigende Ablehnung von bis hin zu Feindseligkeit gegenüber Ausländer*innen und Migrant*innen. Plötzlich erhielten bis dahin marginalisierte Gruppen aus der rechten und nationalistischen Szene, aber auch kleine nationalistische Parteien, Wind in den Segeln. Migration wurde nicht nur zum Hauptthema der Politik, sondern begann auch, die Gesellschaft zu spalten.

Die Regierung drehte den Diskurs

Sich der Stimmung im Land bewusst, reagierte die damalige Regierung unter Ministerpräsident Sobotka mit einer skeptischen Haltung auf die Aufnahme von Geflüchteten, was letztendlich zur Ablehnung von Migrationsquoten durch die Regierung und den Präsidenten führte. Tschechien hat bis zum heutigen Tag insgesamt 12 Geflüchtete aufgenommen, der ehemalige Innenminister Chovanec betonte im April 2017, „die Tschechische Republik sieht es nicht vor, weitere Migranten zu aufzunehmen.“ Am 15. Juni 2017 leitete die Europäische Kommission ein Vetragsverletzungsverfahren gegen Tschechien sowie Polen und Ungarn wegen Nichteinhaltung der Umverteilungsvereinbarungen des Rates der Europäischen Union ein. Obwohl seitdem mehr als eineinhalb Jahre vergangen sind und Tschechien mittlerweile eine neue Regierung hat, hat sich an der ablehnenden Haltung nichts geändert.

Noch einen Schritt weiter ist Präsident Zeman gegangen. Neben seinen kritischen Aussagen gegen die Aufnahme von Geflüchteten und Migrant*innen trat er anlässlich des Nationalfeiertages am 17. November 2015 sogar auf einer Versammlung des rechtsextremen und islamfeindlichen Block gegen den Islam als Redner auf.

Besonders markant ist der spezifische Sprachgebrauch. Sowohl in öffentlichen als auch privaten Debatten verschwimmen die Definitionsgrenzen von Flüchtling und Migrant*in. Ferner hat sich der Begriff Wirtschaftsflüchtling etabliert, wobei dieses Konstrukt zur Zielscheibe von Migrationskritiker*innen geworden ist. Den Wirtschaftsflüchtling gelte es zu stoppen und möglichst vom tschechischen Boden fern zu halten.

Es scheint, dass sich die Situation um das kontroverse Thema Migration beruhigt hat. Die politische Szene wird zurzeit sowohl von den anstehenden Europawahlen als auch von den innenpolitischen Problemen dominiert, die mit den Enthüllungen umfangreicher Spionageaktivitäten seitens Russlands und Chinas zusammenhängen. Der tschechische Nachrichtendienst BIS hat in seinem Jahresbericht für das Jahr 2017 veröffentlicht, dass die Aktivität der ausländerfeindlichen und rechtsextremen Vereinigungen gesunken sei und ihre Kräfte hätten sich zersplittert.

„Wir helfen euch, aber kommt uns bloß nicht näher!“

Die gegenwärtige tschechische Regierung unter Ministerpräsident Andrej Babiš macht in ihrem Regierungsprogramm deutlich, dass sie auch weiterhin das Quoten- und Umverteilungssystem ablehnt und darauf beharrt, dass die Länder auf freiwilliger Basis bestimmen sollten, wie viele Geflüchtete sie aufnehmen. Dieses Ziel möchte sie gemeinsam mit den anderen Regierungen der Visegrad-Gruppe, das heißt Polen, der Slowakei und Ungarn, durchsetzen. Tschechien zielt ferner auf die Stärkung der europäischen Außengrenzen und wirtschaftliche Hilfe für Afrika ab. Ministerpräsident Babiš ist dabei ein großer Verfechter des sogenannten Marshallplans mit Afrika, der durch das deutsche Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit initiiert wurde.

Mit anderen Worten: Die Regierung bietet (Fern-)Hilfe nach dem Motto „aber kommt uns bloß nicht näher“ an. Das wurde auch im November 2018 klar, als die tschechische Europaabgeordnete Michaela Šojdrová (EVP) vorschlug, Tschechien könne 50 syrische Waisen aus Griechenland aufnehmen, um auf diese Weise wenigstens symbolisch zur Linderung der Krise beizutragen. Dieser Vorschlag wurde sowohl von der Öffentlichkeit als auch der politischen Szene ambivalent wahrgenommen. Šojdrová äußerte daraufhin die Absicht, den ganzen Prozess zuerst mit Ministerpräsident Babiš zu klären. Dies könnte sich jedoch als sehr schwierig herausstellen, denn Babiš hatte zuvor mitgeteilt, dass er gegen eine solche Initiative sei.

Seiner Meinung nach müsse man den Waisen vor Ort helfen, ganz in seinem Stil betont er außerdem regelmäßig, er und sein Regierungsamt würden bereits über einen Plan für den Bau eines Zentrums für Kriegswaisen in Syrien verfügen. Das ganze Vorhaben ist sehr umstritten, denn es gibt dazu unterschiedliche Aussagen seitens des Regierungsamts, des Ministerpräsidenten und der tschechischen Botschaft in Syrien, wie die investigative Journalistin Nikola Zwrtková vom Nachrichtenserver Seznam Zprávy berichtete. Die Firma Cubespace, welche laut Ministerpräsident Babiš mit der Ausarbeitung des Projekts beauftragt wurde, hat sich geweigert, mehr Informationen zu veröffentlichen. Anfang Februar 2019 teilte dann Ministerpräsident Babiš mit, dass das Bauprojekt, das die Errichtung eines Kindergartens, einer Schule, Kantine und Sportanlage umfasst, gemeinsam durch das tschechische Rote Kreuz und den syrischen Roten Halbmond koordiniert werden soll. Es wird ferner geplant, für diesen Zweck eine Stiftung zu gründen, welche für Fundraising zuständig wird.

Obwohl die Aufbau- und Kinderhilfe ohne Zweifel sehr lobenswerte Taten sind, erscheinen sie aus der Vogelperspektive betrachtet vor allem ein sehr kluger Schritt des tschechischen Ministerpräsidenten. Sein Projekt, egal in welcher Form es realisiert wird - wenn überhaupt -, verleiht der Regierung die Möglichkeit, die Diskussionsagenda dank eigener Initiative zu steuern. Es handelt sich nicht mehr nur um stures Ablehnen, sondern es erweckt den Eindruck eines konstruktiven Bemühens. Das „Nein zur Aufnahme“ wird mit Neuigkeiten über das Streben nach dem Waisenzentrum maskiert und wird die Kritik an der negativen Haltung seitens europäischer Partner etwas lindern. Vor allem wird die Bevölkerung lieber ein abstraktes und fragliches Projekt in der Ferne als konkrete Taten zu Hause mittragen. Bilder von Waisen in Afrika verdaut man besser als solche von syrischen Kindern, die am Prager Flughafen aus einem Regierungsflugzeug aussteigen, nachdem sie aus Griechenland eingeflogen worden sind.

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