Türkische Parlamentswahlen die zweite
Die Auslandspresse war sich vor den Wahlen einig: Recep Tayyip Erdoğans Streben nach Alleinherrschaft, sein religiös-konservatives Auftreten und eine destruktive Außen- sowie Sicherheitspolitik wird der türkische Wähler erneut abstrafen. Die Vorstellung, dass die liberalen Kräfte in der Gesellschaft geweckt und die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) sowie die säkulare Republikanische Volkspartei (CHP) gestärkt werden, blieb ein Wunsch – in jeder Hinsicht!
Das Wahlergebnis
Mit Blick auf die Wahlen vom 7. Juni und den seit dem durchgeführten Wahlumfragen ist der Ausgang der zweiten Wahl eine bittere Überraschung. Der aufsehenerregende Machtverlust von Erdoğans regierenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) in der vorangegangen Juni-Wahl ist Geschichte. Die AKP erhält mit 49,5 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit und wird mit 317 Sitzen ihre vierte eigenständige Regierungsperiode gestalten. Einziger Trost: Die HDP konnte mit gerade noch 10,8 Prozent die Sperrklausel überwinden, so gehen 59 Sitze und damit die Zwei-Drittel-Mehrheit nicht an die AKP. Der faktisch größte Verlierer ist jedoch die Nationalistische Bewegung (MHP). Mit 11,9 Prozent sitzt die rechtsnationalistische Partei mit 19 Delegierten weniger im Parlament als die HDP. Somit bleibt die CHP mit 25,3 Prozent die zweitgrößte Partei im Parlament. Das Ergebnis der Kemalisten reiht sich in denen der letzten Jahre ein und bleibt so wie immer enttäuschend.
Hintergrund des AKP-Sieges
Der eklatante Verlust von 2,3 Millionen Stimmen in der Juni-Wahl war für Erdoğan und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu (AKP) ein eindringliches Signal und beide hatten die Botschaft richtig interpretiert. Ihre neue Taktik der polarisierenden Kriegsrhetorik, einer harten Linie gegen die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) und die HDP sowie einem verstärkten Vorgehen gegen oppositionelle Medien war erfolgreich. Die AKP konnte jene Stimmen zurückholen, denen die halbherzige Bemühungen Erdoğans zur Lösung des „Kurdenproblems“ bereits zu viel war und im Juni zur antikurdischen MHP trieben.
Ohne den wieder aufgebrochenen Konflikt zwischen türkischen Sicherheitskräften und der PKK aber wäre dieser relative Wahlerfolg der AKP nicht möglich gewesen. Das gibt der Parlamentswahl den Geschmack einer Khaki-Wahl. Mit bereits über 700 Toten und einer Anschlagsserie, die mit dem „türkischen 11. September“ einen brutalen Höhepunkt erreichte, blieb nur der Wunsch nach Sicherheit. Der Auftritt der AKP als starker Mann trifft den Wunsch nach Normalität, der derzeit in weiten Teilen der Bevölkerung größer zu sein scheint als die Angst vor einem zu starken Erdoğan und wesentlich größer ist als kritische Signale aus Europa. So stark, dass auch jene Kurden ihre Stimme der AKP gaben, die den militanten Kurs der PKK nicht unterstützen.
Dass die HDP gerade nach dem Anschlag in Ankara ihre Kampagne einstellte, nahm Erdoğans Taktik den letzten Widerstand. Noch im Juni wurde die HDP als eine Partei gefeiert, die das parlamentarische System schützt, die drohende Islamisierung des Alltages der Türken entgegentritt und auf eine friedliche sowie politische Lösung der derzeitigen Gewalt in der Türkei drängt. Von der PKK hat sich die HDP aber nicht genug abgegrenzt – ein Fehler. Davon war auch in den Wochen vor der November-Wahl genauso wenig zu hören, wie vom androhenden Präsidialsystem seitens der AKP-Spitze. Eine flächendeckende kritische Berichterstattung durch noch übrig gebliebene nicht-regierungsnahe Medien war auch kaum möglich. Oppositionelle Medien wurden durch türkische Sicherheitskräfte zensiert, abgeschaltet und laute Geister eingesperrt. Und die CHP? Ein Wahlprogramm, dass sich thematisch auf Mindestlöhne und Renten fokussierte, scheint für die türkischen Bürgerinnen und Bürger zwar wählbar zu sein, aber einen politischen Neuaufbruch verspricht die älteste türkische Partei den 54 Mio. Wahlberechtigten nicht. So dümpelt die säkulare Partei weiterhin bei 25 Prozent.
Mit voller Kraft ins Präsidialsystem?
Auch beim zweiten Gang der türkischen Parlamentswahl, ging es nicht darum nur 550 Mandate zu verteilen. Mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit wollte die regierende AKP bereits im Juni 2015 den ersten Schritt Richtung Präsidialsystem genommen haben. Die Türkei bleibt aber vorerst eine parlamentarische Demokratie mit eklatanten Defiziten. Um die Verfassung eigenständig zu ändern, braucht die AKP weitere 50 Abgeordnete. 330 Stimmen würden aber schon ausreichen, um darüber in einem Referendum entscheiden zu lassen. Die restlichen Stimmen könnten von der MHP bekommen, die schon so oft von ihrer nach außen kommunizierten Haltung Reißaus genommen hat – alles Verhandlungssache. Dass das Präsidialsystem durch die AKP auf den Weg gebracht wird, steht aber noch nicht absolut im Raum. Auch innerhalb der AKP wird der Wunsch des Staatspräsidenten kritisiert und angeblich von 70 Prozent der Türken nicht gedeckt – aber das mit den Umfragen lassen wir mal.
Dennoch, Erdoğans unkonstruktive Haltung innerhalb der Partei kann zu einer schweren innerparteilichen Debatte führen, vor allem um den ehemaligen Präsidenten Abdullah Gul und Ali Babacan sehen Beobachter eine parteiinterne Kraft gegen den eigentlichen AKP-Chef Erdoğan. Interessant wird, wie sich Davutoğlu positioniert. Denn Erdoğan mag zwar die neue Strategie angeordnet haben, aber der Ministerpräsident hat sie umgesetzt und hat damit seine eigene Position gestärkt. Vor allem aber der 67-jährige MHP-Chef Devlet Bahçeli, der die meiste Zeit damit verbrachte Konkurrenten auszustechen, muss sich auf kritische Fragen vorbereiten. Gleiches gilt für den 66-jährigen CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu dessen neuer Programmansatz nicht wirkte.
All diese Debatten werden mit dem Hintergrund geführt, dass mit dem andauernden Kampf zwischen türkischer Armee sowie PKK und eine zunehmende autoritäre Regierung die Polarisierung der türkischen Bevölkerung an kulturell-ethnischen Grenzen vorantreibt. Der stark nationalistische Ansatz der AKP trifft auf Widerhall und anders als behaupte, ist der Juni-Erfolg der HDP nicht auf starke liberale Kräfte zurückzuführen, sondern auf eine starke kurdische Nationalbewegung. Die HDP muss sich stärker öffnen und den Spagat zwischen säkularen Kreisen und einer militanten Politik der PKK schaffen, um unnachgiebig den Kampf um mehr Mitbestimmung in zivile Foren zu tragen und sich letztlich als eine Alternative zu beweisen.
Kommentare verfolgen: |