ASEAN und die EU

Regionale Integration im Vergleich

, von  Reuben Bharucha, übersetzt von Simone Bresser

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Regionale Integration im Vergleich
Die Staaten der ASEAN sind divers und unterschiedlich aufgestellt- insbesondere wirtschaftlich. Singapur liegt mit einem Pro-Kopf-BIP von 65.000 Dollar an der wirtschaftlichen Spitze der ASEAN-Staaten. Zum Vergleich: Myanmar liegt mit 1.400 Dollar am unteren Ende. Foto: Unsplash / Joshua Rawson Harris / Unsplash Licence

Südostasien ist auf dem Vormarsch, und das seit über einem Jahrzehnt. Angesichts der angespannten Beziehungen zwischen dem Westen und China, die nach der aktuellen Pandemie keine Anzeichen der Besserung zeigen, werden die Länder Südostasiens wahrscheinlich an Bedeutung gewinnen. Der Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) vereint zehn der elf Staaten der Region (mit Ausnahme von Osttimor) und hat das Potenzial, eine immer wichtigere Rolle in der Welt zu spielen.

Wie die Europäische Union ist die ASEAN ein prominentes Beispiel für regionale Integration. In gewisser Weise spiegelt ihre Entwicklung die der EU wider. Sie wurde 1967 als Nachfolgerin der Assoziation von Südost-Asien (ASA) gegründet und bestand zunächst aus fünf Staaten. Zum Zeitpunkt der asiatischen Finanzkrise 1997 hatte sich ihre Größe fast verdoppelt. Seit 1992 sind die Mitglieder in einer Freihandelszone vereint und der rechtliche Status der ASEAN-Charta wurde 2007 formell bekräftigt.

Es gibt jedoch deutliche Unterschiede. Erstens ist sie mit rund 660 Millionen Einwohner*innen ein gutes Stück größer als die Europäische Union. Im Gegensatz zur EU ist ihr wirtschaftliches Wachstum überwältigend. Während sich das EU-weite BIP-Wachstum in den letzten Jahren bei etwa 2 % bewegte, lag das der ASEAN bei etwa 5 %.

Sie ist zudem deutlich vielfältiger als die EU, sowohl wirtschaftlich als auch geographisch und kulturell. Doch es gibt einen großen Unterschied: Sie ist (bisher) deutlich weniger integriert als die Europäische Union. Während die EU seit 1999 eine Währungsunion hat und irgendwo zwischen einer zwischenstaatlichen und staatsähnlichen Organisation mit gesetzgebenden Organen und einem obersten Gerichtshof liegt, ist die ASEAN eindeutig eine Organisation des zwischenstaatlichen Typs.

Die ASEAN steht vor einer Reihe von Herausforderungen, die mit denen der Europäischen Union verglichen werden können, und die sie bewältigen muss, um ihre künftige Position auf der Weltbühne zu sichern. Mit ihrem Konsensprinzip, einer normativen Schwäche, der Vielfalt ihrer Mitgliedstaaten und der Klimakrise werden die Leitwerte des Verbandes auf die Probe gestellt.

Das Konsensprinzip

Eine der größten Herausforderungen für die ASEAN war in letzter Zeit (wenig überraschend) China. Gebietsstreitigkeiten über das Südchinesische Meer haben die Beziehungen zu Vietnam, den Philippinen, Malaysia und Brunei belastet. Während die Forderung laut wurde, dass sich die ASEAN bei der Beilegung der Streitigkeiten einbringt, war China, charakteristisch für das Land, einer Teilnahme an multilateralen Verhandlungen gegenüber abgeneigt.

Selbst als der Ständige Schiedsgerichtshof in Den Haag in einem historischen Urteil im Jahr 2016 zugunsten der Philippinen entschied, versäumten es die Außenminister*innen der ASEAN-Staaten ein Statement zur Untermauerung des Urteils abzugeben. Der Grund dafür? Kambodscha, das die Ansprüche Chinas unterstützt hatte, widersetzte sich der Erklärung. Dies offenbart eine der Kernschwächen der ASEAN: ihr Konsensprinzip.

In der ASEAN müssen Entscheidungen im Konsens getroffen werden, wodurch jeder Staat ein Vetorecht hat. Dies erinnert an den langen Kampf der Europäischen Union mit dem Einstimmigkeitsvotum, welches in vielen Politikbereichen weitgehend durch die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit abgelöst wurde.

Innerhalb der ASEAN gibt es Forderungen nach einem ähnlichen Mehrheitsentscheidungsverfahren für bestimmte Politikbereiche. Auch Ideen für neue Institutionen mit dem spezifischen Ziel, sich mit dem Südchinesischen Meer zu befassen, wurden geäußert. Ohne eine sorgfältige Überprüfung ihres Entscheidungsfindungsprozesses wird es der ASEAN schwerfallen, in der Geopolitik der Region mitreden zu können.

Normative Schwäche

Ein weiteres strittiges Thema für die ASEAN waren ihre schwachen Reaktionen auf Krisen innerhalb der Mitgliedstaaten. Dies zeigte sich nach einem Militärputsch in Thailand im Jahr 2014. Die ASEAN wurde wegen ihrer verhaltenen Reaktion kritisiert. Viele Beobachter*innen wiesen auf die Charta, die versucht, „Demokratie zu stärken [und] Good Governance zu fördern.“ In ihren Augen versäumte es die ASEAN, diese Prinzipien aufrechtzuerhalten. Die Charta betont jedoch auch das Prinzip der „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der ASEAN-Mitgliedstaaten“ – ein Grundpfeiler der Organisation. Dies stellt die ASEAN vor ein Dilemma.

Diese Unfähigkeit des Verbandes, auf Krisen innerhalb der Mitgliedstaaten zu reagieren, wurde erst kürzlich im Zusammenhang mit der Behandlung der muslimischen Rohingya-Minderheit in Myanmar offengelegt. Wieder einmal erwies sich die ASEAN als unfähig, mehr zu tun, als vage Erklärungen abzugeben und einen Bericht zu veröffentlichen, dem vorgeworfen wurde, das Thema „zu beschönigen“. Dieses Unvermögen wurde als normative Schwäche der ASEAN bezeichnet und könnte ihre internationale Glaubwürdigkeit ernsthaft beeinträchtigen.

In letzter Zeit wurde der Europäischen Union in ähnlicher Weise normative Ohnmacht vorgeworfen. Die Reaktion auf die Migrationskrise des Jahres 2015 (und der jüngsten Welle Anfang 2020) hat dem Ansehen der EU schweren Schaden zugefügt. Viktor Orbáns Ungarn, das sich in den letzten zehn Jahren einer autoritären Herrschaft angenähert hat, sorgte bei vielen Beobachter*innen für Empörung angesichts seines Coronavirus-Gesetzes, welches als Versuch angesehen wurde, die Demokratie auf unbestimmte Zeit abzuschaffen. Die Reaktion der EU war eine glanzlose Kombination aus bruchstückhafter Kritik und sorgfältig formulierten Stellungnahmen.

Vielfältigkeit

Eine der Herausforderungen, mit denen die ASEAN seit ihrer Gründung konfrontiert wurde, ist der Umgang mit der Vielfalt der Mitgliedstaaten. Die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten beginnen bei der Geographie, vom Binnenstaat Laos über den Stadtstaat Singapur bis hin zum Inselstaat Indonesien. Darüber hinaus ist eine beträchtliche Anzahl der Bürger*innen der ASEAN-Mitglieder buddhistisch oder christlich, wenngleich der überwiegende Teil muslimisch ist. Zudem gibt es in der ASEAN zahlreiche ethnische Gruppen, kulturelle Normen und politische Systeme, die von Einparteienstaaten bis hin zu Demokratien und Mischformen zwischen beiden reichen.

Daher hat die Vereinigung versucht, eine Art Identität um das herum zu schaffen, was sie den „ASEAN Way“ nennt. Dieser basiert auf zwischenstaatlicher Zusammenarbeit, geprägt von regionalen Normen, bei gleichzeitiger Respektierung der staatlichen Souveränität durch das Prinzip der Nichteinmischung. Durch das Beharren auf Konsens und Nichteinmischung hat die ASEAN versucht, eine Identität zu schaffen, die auf genau dieser Vielfalt beruht. Jedoch droht eben diese Vielfalt auch, die Organisation zu schwächen.

Die ASEAN und ihre Mitgliedstaaten haben sich lange Zeit mit ihrer Inklusivität gerühmt – ein stolzes Ergebnis ihrer Vielfalt. In letzter Zeit sind jedoch Risse entstanden. Sowohl Malaysia als auch Indonesien haben eine zunehmende islamische Radikalisierung erfahren. Die Philippinen und Thailand waren mit anhaltenden muslimischen Separatistenbewegungen konfrontiert. Vietnam hat eine empfindliche Erfolgsbilanz mit verschiedenen ethnischen Gruppen und Religionsfreiheit hinter sich, und Myanmars Behandlung der Rohingya wurde zu Recht international verurteilt. Diese Unterströmungen tragen dazu bei, das harmonische Selbstbild der ASEAN zu untergraben.

Die wirtschaftliche Vielfalt der ASEAN ist eine weitere Herausforderung. Singapur liegt mit einem Pro-Kopf-BIP von 65.000 Dollar an der Spitze und Myanmar mit 1.400 Dollar am unteren Ende. Dies stellt ein erhebliches Hindernis für eine weitere Integration dar.

Die Europäische Union (deren Motto „in Vielfalt geeint“ lautet) hat dazu geneigt, ihre Einheit über ihre Vielfalt zu stellen. Sie hat eine europäische Identität gefördert, die auf einem gemeinsamen kulturellen Erbe und dem Eintreten für individuelle Rechte und Demokratie basiert. Dies war lange Zeit das Fundament für die zunehmende Integration in der EU.

Nichtsdestotrotz wird die EU durch ihre nationale Vielfalt herausgefordert. In den letzten Jahren haben populistische und integrationsfeindliche Bewegungen den Kontinent überrollt und eine „Identitätskrise“ der EU ausgelöst. Euroskeptizismus hat sich im Zuge der Ausernandersetzung der Mitgliedstaaten mit ihrer Mitgliedschaft in der EU verbreitet und zeigt die Kehrseite einer gemeinsamen Identität auf. In der Vergangenheit war die Kluft zwischen den Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten ebenfalls ein Reibungspunkt; am deutlichsten wurde dies während der griechischen Schuldenkrise.

Die Klimakrise

Schließlich befinden sich die ASEAN-Mitgliedstaaten auch an der vordersten Front der Klimakrise. Ihre Bevölkerungen sind mehrheitlich entlang der Küste wohnhaft. Die flachen, fruchtbaren Ebenen sind durch den Anstieg des Meeresspiegels dabei besonders gefährdet. Der Verlust von Territorium durch den Anstieg des Meeresspiegels in Verbindung mit den Auswirkungen auf die Fischbestände in Fließgewässern und Ozeanen verheißt nichts Gutes für ihre Ernährungssicherheit.

Zudem gibt es Auswirkungen auf das Wetter, das zunehmend unberechenbar wird und die Ökosysteme destabilisiert. Südostasien hat bereits jetzt eine der höchsten Frequenzen an Naturkatastrophen, die neben den menschlichen Kosten die Ernährungsunsicherheit in der Region weiter verschärfen werden. Solche Wetterereignisse werden voraussichtlich in erhöhtem Maße auftreten.

Dies alles wird in der Zukunft zu verstärkter Migration und Ressourcenknappheit führen, was wahrscheinlich regionale Spannungen entfachen wird. Dies wiederum könnte die Bereitschaft zu zwischenstaatlicher Zusammenarbeit verringern, was die Entscheidungsfindung der ASEAN erschweren und damit die Existenz der Organisation bedrohen würde.

Da die Mitglieder der ASEAN mehrheitlich aufstrebende Volkswirtschaften sind, steht die Region vor einer weiteren Herausforderung: Wie können wirtschaftliche Entwicklung und Nachhaltigkeit miteinander in Einklang gebracht werden? Südostasien ist eine der wenigen Regionen der Welt, in der der Kohleverbrauch wächst. Trotz Zusicherungen der Regierungen schreitet die Abholzung der Wälder in der Region weiter voran und ist für fast die Hälfte der Emissionen Indonesiens verantwortlich, was zum großen Teil auf Palmölplantagen zurückzuführen ist. Es wird für die Region schwierig sein, auf traditionelle wirtschaftliche Entwicklung zugunsten nachhaltiger Alternativen zu verzichten.

Eine Zukunft voller Herkulesaufgaben

Wie wir bei der Europäischen Union gesehen haben, sind Schritte in Richtung ökologischer Nachhaltigkeit nicht einfach, nicht einmal in entwickelten Volkswirtschaften. Nichtsdestotrotz macht die EU Fortschritte in Richtung einer weitreichenden Klimapolitik, mit ehrgeizigen Zielen, die im Europäischen Green Deal festgelegt wurden. Angesichts der Tatsache, dass die EU viel besser positioniert ist, um solche Ziele zu setzen, sowohl im Hinblick auf die Integration als auch auf die wirtschaftliche Entwicklung, erscheint die Aufgabe für die ASEAN als Herkulesaufgabe.

Da die Klimakrise kein geographisch isoliertes Phänomen ist, werden regionale Anstrengungen bei der Bewältigung ihrer Folgen von entscheidender Bedeutung sein. Bisher fehlte es den ASEAN-weiten Lösungen an Schwung und Reichweite. Obwohl es Erklärungen und mehrere Arbeitsgruppen gegeben hat, gibt es nur wenige konkrete Vorschläge oder Initiativen zur Bekämpfung der Klimakrise. Umweltfragen müssen zu einem Kernanliegen für die ASEAN werden. Wie die Organisation mit der Klimakrise umgeht, wird wahrscheinlich ihre größte Bewährungsprobe sein – und es ist eine, bei der sie es sich kaum leisten kann, zu scheitern.

Vor dem Hintergrund der Coronavirus-Pandemie hat ein Umdenken im globalen System stattgefunden. Insbesondere die Abhängigkeit von globalen Lieferketten wird hinterfragt. Insofern wird regionale Integration nur noch mehr an Bedeutung gewinnen, da sich Länder eher ihren Nachbarn zuwenden werden als fernen Kontinenten. In der Welt nach Corona werden Organisationen wie die ASEAN noch bedeutsamer werden. Wie die EU, die oft als Modell für regionale Integration gepriesen wird, steht die ASEAN vor vielen Herausforderungen. Wie ihnen entgegengetreten wird, wird darüber entscheiden, welchen Platz beide Organisationen in der künftigen Weltordnung einnehmen werden.

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