Der Kosovo ist ein Gebiet mit umstrittenem Status. Obwohl das Gebiet 2008 seine Unabhängigkeit von Serbien proklamierte, nachdem es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dessen autonome Provinz war, erkennen viele Länder seine Souveränität nicht an. Nach dem Kosovokrieg (1998-1999), der Teil der Jugoslawienkriege war, wurde der Kosovo unter die Verwaltung der Vereinten Nationen gestellt.
Seitdem gab es zahlreiche Versuche, die Beziehungen zwischen den beiden Staaten zu normalisieren. Die nennenswertesten sind das Brüsseler Abkommen von 2013 und vor kurzem das Ohrid-Abkommen von 2023.
Die Amtseinführung von ethnisch albanischen Bürgermeister*innen gießt Öl ins Feuer
Obwohl die serbisch stämmige Bevölkerung im Kosovo eine große Minderheit ist, stellt sie in einigen Regionen, vor allem im Norden des Landes, die Mehrheitsbevölkerung dar. Viele von ihnen erkennen weder die Unabhängigkeit des Kosovo noch die Legitimität seiner Institutionen an.
Ende 2022 hatte die Entscheidung des Kosovo, dass alle Autos im Kosovo zugelassen werden müssen, zu einem Massenrücktritt serbischer Beamt*innen und Politiker*innen im Kosovo geführt. Aufgrund der starken Spannungen und Blockaden wurden die Kommunalwahlen, bei denen die zurückgetretenen Bürgermeister ersetzt werden sollten, daraufhin verschoben. Im April dieses Jahres fanden Wahlen in den Gemeinden Nord-Mitrovica, Zubin Potok, Zvecan und Leposavić statt. 45.000 Bürger*innen waren zur Stimmabgabe aufgerufen. Belgrad rief die Kosovo-Serb*innen dazu auf, die Wahlen zu boykottieren. Das Ergebnis: eine Wahlbeteiligung von weniger als 4%, die niedrigste in der Geschichte, und die Wahl von Bürgermeistern albanischer Herkunft in diesen Gemeinden mit serbischer Mehrheit. Am Freitag, den 26. Mai, traten die frisch gewählten Bürgermeister albanischer Herkunft ihr Amt an.
Reaktionen nach der Amtseinführung der Bürgermeister
Der serbische Verteidigungsminister Milos Vučević gab live im Fernsehen bekannt, dass er den Befehl für eine Notverlegung von Truppen an die kosovarische Grenze gegeben hätte, und sprach von Terror gegen die serbische Gemeinschaft im Kosovo. Einige Tage später, am Montagabend des 29. Mai, brachen die Spannungen aus. Zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt wurden Soldat*innen der KFOR (Kosovo Force), einer multinationalen Streitmacht, die von der NATO im Kosovo eingesetzt wird, verletzt. Unter den Verletzten befanden sich rund 40 Blauhelme, hauptsächlich aus dem italienischen und ungarischen Kontingent, serbische Demonstrant*innen, Journalist*innen und kosovarische Ordnungskräfte. Am 30. Mai erklärte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Oslo, dass die NATO ihre Präsenz mit 700 zusätzlichen Soldat*innen verstärken werde.
Die Entscheidung von Albin Kurti, dem Premierminister des Kosovo, trotz der geringen Wahlbeteiligung und der bestehenden Spannungen ethnisch albanische Bürgermeister in seinen serbisch dominierten Gebieten einzusetzen, hat ihm Kritik von seinen NATO-Verbündeten eingebracht. Die USA, das Vereinigte Königreich, Frankreich, Deutschland und Italien (die informelle Gruppe, die QUINT bildet) gaben darüber hinaus eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie die Entscheidung verurteilten. Die Botschafter von QUINT trafen sich auch mit dem serbischen Präsidenten.
Gegenseitige Beschuldigungen von Serbien und Kosovo
Beide Seiten sind der Ansicht, dass die Gewalt von der jeweils anderen Seite provoziert wurde. Unter anderem bezeichnete Albin Kurti die Gewalt als Versuche Serbiens, das Kosovo zu spalten, mit dem Ziel, es zu destabilisieren. Aleksandar Vučić erklärte seinerseits, dass die neu gewählten Bürgermeister illegal seien. Die kosovarische Regierung lehnt die von Serbien seit langer geforderter Gründung einer Vereinigung serbischer Bürgermeister*innen im Kosovo ab. Sie denunziert einen Versuch, eine „Republika Srpska“ (Serbische Republik) in Anlehnung an die Situation in Bosnien und Herzegowina zu gründen.
Neben den gegenseitigen Beschuldigungen der beiden Seiten zeigen Russland und China ihre Unterstützung für Belgrad. Der Sprecher des chinesischen Außenministeriums gibt dem Kosovo die Schuld an der aktuellen Situation und wirft ihm vor, die politischen Rechte der Serb*innen nicht zu respektieren.
Beschwichtigungsversuche am Rande des Gipfels der Europäischen Politischen Gemeinschaft
Am Donnerstag, dem 1. Juni, trafen sich 47 europäische Staats- und Regierungschef*innen in Moldau zum zweiten Treffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft. Der Gipfel fand kurz nach dem Wiederaufflammen der Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo statt und bot Gelegenheit für bilaterale Gespräche oder Treffen in kleinerem Rahmen, um einen Abbau der Spannungen zu erreichen.
Sat down with @predsednikrs and discussed with @VjosaOsmaniPRKS the dangerous situation in north of Kosovo.
With @EmmanuelMacron & @Bundeskanzler we met together and bilaterally with President Vucic and President Osmani. pic.twitter.com/2VRvS8B8jm
— Josep Borrell Fontelles (@JosepBorrellF) June 1, 2023
Nachdem sie zunächst jeden Dialog abgelehnt hatten, trafen sich die Präsidentin des Kosovo, Vjosa Osmani-Sadriu, und der serbische Präsident, Aleksandar Vučić, schließlich bei einem Vierertreffen mit ihren französischen und deutschen Amtskollegen. Das Treffen fand am Donnerstag, den 1. Juni, in Chisinau am Rande des Gipfels der Europäischen Politischen Gemeinschaft statt. Laut Emmanuel Macron verpflichteten sich seine kosovarischen und serbischen Amtskollegen, den von Frankreich und Deutschland vorgelegten Plan zum Abbau der Spannungen zu prüfen. Dieser Plan sieht vor, dass das Kosovo in den umstrittenen Gemeinden Neuwahlen abhält und Serbien die Teilnahme der Serb*innen an den neuen Wahlen fördert. Die beiden Staatschefs sollten noch in der Woche Konsultationen abhalten und auf den Vorschlag antworten.
Auswirkungen auf die Beziehungen zur Europäischen Union
Die Europäische Union erklärte, dass die zunehmenden Spannungen das unter ihrer Schirmherrschaft geschlossene Abkommen zur Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden Balkanländern gefährdeten. Der albanische Premierminister erklärte, er wolle auf eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo hinarbeiten, damit die Balkanregion in eine neue Ära in ihren Beziehungen zur EU eintreten könne.
Der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, betonte, dass die Spannungen zwei EU-Beitrittskandidaten betreffen und daher mit noch mehr Vorsicht und Mäßigung vorgegangen werden müsse. Er forderte die kosovarischen Behörden auf, die Polizeieinsätze in den nördlichen Gemeinden einzustellen, und dass die serbischen Demonstrant*innen sich zurückzuziehen. Darüber hinaus erklärte er, dass Politiker*innen beider Seiten ihre Rolle bei der Entschärfung der Krise spielen müssten. Er betonte jedoch auch, dass es Konsequenzen in den bilateralen Beziehungen geben werde, falls es den Beteiligten nicht gelingen sollte, die Spannungen zu entschärfen.
Das Kosovo seinerseits stellt die Rolle der Europäischen Union im Dialog in Frage. Die ehemalige kosovarische Außenministerin Meliza Haradinaj ist der Ansicht, dass es nicht mehr im Interesse des Kosovo sei, an Verhandlungen mit der Europäischen Union als Vermittlerin teilzunehmen. Sie ist der Ansicht, dass die Vermittlung durch die USA erleichtert werden könnte, die sie für unparteiischer hält.
Die OSZE bemüht sich auch, zur Wiederherstellung des Friedens in der Region beizutragen
Michael Davenport, der Leiter der OSZE-Mission im Kosovo, erklärte, er unterstütze die Abhaltung von Neuwahlen und das OSZE-Büro im Kosovo werde dem Kosovo dabei behilflich sein. Er betonte, dass die Wahlen gesetzeskonform verlaufen seien, die niedrige Wahlbeteiligung jedoch die Nachhaltigkeit und Legitimität der Mandate in Frage stelle.
Die OSZE-Mission im Kosovo legte einen Neun-Punkte-Plan zur Entschärfung der Spannungen vor.
- Der erste Punkt des Plans ist die Bekräftigung der Verpflichtung des Kosovo und Serbiens zur Einhaltung der zuvor getroffenen Vereinbarungen.
- Im zweiten Punkt fordert die OSZE das Kosovo auf, seine Ordnungskräfte aus der nördlichen Region abzuziehen, und Serbien, die Bereitschaft seiner Truppen an der Grenze zum Kosovo zu verringern.
- Drittens ist die OSZE der Ansicht, dass die KFOR (die Streitkräfte der NATO), EULEX (die zivile Mission der EU) und die Kosovo-Polizei in der Lage sein sollten, die Sicherheit im Land zu gewährleisten.
- Viertens sollten die Demonstrationen eingestellt werden und die kommunalen Dienste ihre normale Tätigkeit wieder aufnehmen.
- Der fünfte Punkt erfordert den Rücktritt der vier kürzlich gewählten Bürgermeister bis zum Sommer.
- Darüber hinaus fordert der sechste Punkt vorgezogene Neuwahlen in diesem Jahr, die laut siebtem Punkt von der OSZE unterstützt werden sollen.
- Im achten und neunten Punkt wird auf die Einbeziehung der Jugend in den Versöhnungsprozess und die Unterstützung von Maßnahmen hingewiesen, die in den laufenden Dialogen vorgesehen sind.
Es handelt sich um den ersten offiziellen und öffentlichen Plan der OSZE zur Schaffung von dauerhaftem Frieden und Stabilität in der Region. Die Veröffentlichung des Plans erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem das Vertrauen des Kosovo in die Europäische Union schwindet.
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