UK oder EU? Schottland steht zwischen den Stühlen

, von  Dorothée Falkenberg

UK oder EU? Schottland steht zwischen den Stühlen
Schottland steht vor einer schweren Entscheidung: EU oder UK? Ein Unabhängigkeitsreferendum soll erneut darüber entscheiden. unsplash/Adam Wilson/Lizenz

Nach dem Brexit haben sich die Karten in Schottland neu gemischt. Die Schottische Nationalpartei SNP macht sich erneut für ein Unabhängigkeitsreferendum stark. Wenn Corona abflaut, soll es soweit sein. Während des Brexits habe ich die Situation vor Ort beobachtet. Ein Porträt von Dorothée Falkenberg

Geht man in einen schottischen Souvenirshop, begegnen einem Kilts, Schals und Decken im schottischen Tartan, Kaffeebecher, bedruckt mit schottischen Hochlandrindern und Blackface-Schafen, und vor allem die schottische Flagge. Vielleicht ragt eine schüchterne Queen hier und da mal vorsichtig an einem Schlüsselanhänger oder einer Postkarte hervor, ansonsten ist das Vereinigte Königreich wenig sichtbar. Der kleine Landesteil Schottland ist zwar kein gänzlich autonomer Staat, hat aber ein Identitätsgefühl wie einer. Es ist September 2019, vier Monate vor dem Brexit. Meine Vermieterin Lily, die am Rand von Edinburgh in einem kleinen Reihenhaus wohnt, hält nichts vom Brexit. „Wie alle Schotten“, sagt sie. Ihr Freund Oliver sagt nichts. Beim EU-Mitgliedschaftsreferendum haben 62 Prozent der Schott*innen für einen Verbleib in der EU gestimmt. In England waren es nur 46 Prozent. Lily meint, man rede hier nicht so viel über Politik. Nur bei dem Referendum über Schottlands Unabhängigkeit vom Vereinten Königreich, damals, hat sie ihre Freund*innen gefragt, was sie gewählt haben. Der Ruf nach einem Unabhängigkeitsreferendum ist in Schottland schon häufiger laut geworden. Bisher konnte aber nur im Jahr 2014 vom damaligen Premierminister David Cameron und dem damaligen First Minister der schottischen Regionalregierung Alex Salmond eines durchgesetzt werden. Es stimmten 55 Prozent für den Verbleib im Vereinten Königreich. Es zeigte sich nicht nur, dass Schottland bei der Unabhängigkeitsfrage gespalten ist, auch die Vorliebe David Camerons für Referenda wurde sichtbar. Denn es dauerte keine zwei Jahre und er initiierte das nächste Referendum. Diesmal über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union.

Statistik: Ergebnis des Referendums zur Unabhängigkeit Schottlands vom Vereinigten Königreich am 18. September 2014 | Statista
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Verschobene Austrittstermine und Lokalpatriot*innen

Professor Mr. Williams, der Politikwissenschaft an der University of Edinburgh unterrichtet, hat eine klare Meinung dazu. Er kürt David Cameron in einer Vorlesung zum Brexit ohne Umschweife zu dem schlechtesten Premierminister aller Zeiten. Schlechter noch als Margret Thatcher, bei deren Tod Ceilidhs in der Royal Mile gefeiert wurden. Eine schottische Tanzparty in einer der berühmtesten Straßen Schottlands ist nicht gerade ein Ausdruck von Trauer. Mr. Williams bezeichnet sich offen als links, das hält ihn aber noch lange nicht davon ab, überzeugter Lokalpatriot zu sein. Es vergeht keine Vorlesung, in der er sich nicht über England lustig macht. Nur einmal, als er den Vorlesungsplan vorstellte, wurde er ernst. Was auch immer am 31. Oktober passieren würde, sagte er, wir würden hier sitzen und eine Vorlesung haben. Die Unsicherheit im Saal war deutlich zu spüren. Schon zweimal musste der Austrittstermin verschoben werden, weil das Unterhaus immer wieder gegen das Austrittsabkommen stimmte. Seit dem Brexit Referendum sind schon mehr als drei Jahre vergangen. „Wir sind einfach nur noch genervt. Das ist doch nur noch lächerlich“, gestand mir ein Politikstudent später im Café und zeigte mir ein Foto vom Abgeordneten Jacob Rees-Mogg, der sich während einer Brexit-Debatte auf der Parlamentsbank ausbreitete und sich schlafend stellte.

Rennen für Schottland

Dass ausgerechnet an Halloween der Brexit stattfinden sollte, passte genau in den dunklen britischen Humor. Und dennoch musste der Termin erneut verschoben werden. Diesmal auf den 31. Januar 2020. Daraufhin beschloss das Unterhaus eine vorgezogene Neuwahl für den 12. Dezember. Für die britische Leistungssportlerin Ruby ein kleiner Hoffnungsschimmer. Vielleicht könne der Brexit ja doch noch verhindert werden, wenn es entsprechende Mehrheiten im Unterhaus gäbe. Wenn sie für Schottland läuft, bemalt sie ihre Nägel in dem Blau der schottischen Flagge. Für UK läuft sie nicht so gerne. Sie ist in erster Linie Schottin. Natürlich wählte sie SNP, die Schottische Nationalpartei, so wie bei jeder Wahl. Sie ist gegen den Brexit, weil sie lange in Spanien gelebt und Freund*innen überall in der EU hat. Vor allem aber, weil für manche ihrer Freund*innen der Brexit bedeuten würde, dass sie ausreisen müssten, weil sie keine britische Staatsbürgerschaft haben. Ruby streitet sich am Abend der Wahl mit ihrer englischen Freundin, weil diese nicht wählen gegangen ist. Ihre Freundin ist genervt von den ganzen Meinungen, die sie am Tag der Wahl in den sozialen Medien überfluten. So einfach sei das mit dem Brexit nicht. Man müsse ja auch die wirtschaftlichen Aspekte sehen, argumentiert sie. Am Morgen nach der Wahl steht in der schottischen Tageszeitung “Scotsman”: „Wenn es sich so anfühlte, als ob die wichtigste Wahl seit einer Generation keine Rolle spielte, dann deshalb, weil eine inzwischen müde gewordene Lektion bestätigt wurde: Man kann keine binäre Verfassungsfrage durch die älteste parlamentarische Demokratie der Welt schieben. Die Maschinerie ist zu empfindlich; Dinge gehen kaputt.”



Für die meisten von Rubys Freund*innen wäre die schottische Unabhängigkeit die einzig logische Konsequenz des Brexits. Foto: Stewart M/unsplash


Schottische Unabhängigkeit als logische Konsequenz?

Die Tories erzielten die größte Mehrheit seit den 1980er-Jahren im Unterhaus. Dem Brexit stand nun nichts mehr im Weg. Aber auch die Schottische Nationalpartei erhielt ein historisch hohes Ergebnis. In Schottland erreichte die proeuropäische SNP über 80 Prozent der für Schottland vergebenen Sitze, weshalb die Parteichefin Nicola Sturgeon umgehend ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum forderte. Für die meisten von Rubys Freund*innen wäre die schottische Unabhängigkeit die einzig logische Konsequenz des Brexits. Auch aktuelle Umfrageergebnisse zeigen, dass eine Mehrheit diesmal sehr wahrscheinlich wäre.

Die meisten Argumente, die ich in den Unabhängigkeits- und Abhängigkeitsdebatten gehört habe, waren wirtschaftlicher Natur. „Aber das ganze Geld kommt doch aus London. Das geht nicht.“ – „Viel Geld kommt auch von der EU.“ – „Wir wären nichts ohne London, ohne England.“ Später stellt sich oft heraus, dass dahinter vor allem das Identitätsgefühl steckt. „Wir sind doch UK viel näher als der EU, auch kulturell. Das kannst du nicht abstreiten“, versuchte eine Engländerin in Rubys Freund*innenkreis ihre schottischen Freund*innen zu überzeugen. Wer Familie in England hat, möchte keine Staatsgrenze dazwischen. Wer in einem anderen EU-Land leben und arbeiten möchte, möchte keinen Visumsantrag stellen. Aber worin sich alle einig sind, niemand möchte sich was sagen lassen.

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