Wie postkoloniale Debatten für mehr Verständnis innerhalb Europa sorgen können

Vergessene Imperien vor der Haustür

, von  Marcel Knorn

Vergessene Imperien vor der Haustür
Jugendstilkomplex in Riga. Über den Platz der deutschen, schwedischen und russischen Machthaber im lettischen Nationalgedächtnis wird anhaltend gestritten. Foto: Pixabay / anaterate / Pixabay Lizenz

Politik, Gesellschaft und Wissenschaft diskutieren immer wieder die Spuren, die die großen Kolonialreiche hinterlassen haben, und die postkoloniale Theorie ist mittlerweile zu einem wichtigen Zweig wissenschaftlicher Forschung geworden. Trotzdem wohnt dem imperialistischen Diskurs eine faszinierende Exotik inne. Koloniale Folgen verbindet man in Deutschland oft mit Commonwealth und Raubhandel, seltener überhaupt mit den eigenen Gräueltaten. Dass wir nicht in die Ferne schweifen brauchen, um koloniale Spuren zu finden, fällt dabei gar unter den Tisch. Ob Lappland, Balkan oder Baltikum: Postkoloniale Spannungsfelder finden sich direkt vor unserer Haustür. Ihre Folgen weiterhin zu ignorieren könnte uns teuer zu stehen kommen. Ein Kommentar.

Die Debatte um Kolonialvergangenheiten beschränkt sich in der deutschen Öffentlichkeit nicht selten auf die Schreckenstaten der ehemaligen Seemächte: Wir verurteilen die Einbehaltung afrikanischer Kunstschätze durch britische Museen. Wir kritisieren das Verhalten Frankreichs im Algerienkrieg. Wir finden die niederländische Tradition des Zwarte Piet, des dunkelhäutigen und bösen Knecht Ruprechts, rassistisch. Kolonialismus trägt in der deutschen Öffentlichkeit nicht selten den Beigeschmack tropischer Exotik – ein Schluss, der ebenso schnell wie falsch ist. Zwar immer häufiger, aber viel zu spät wird in den Debatten auf unsere eigene, durchaus blutige Vergangenheit als Überseemacht eingegangen. Doch genügt das frühe Ende unserer Kolonialherrschaft, um diese distanzierte Haltung zu rechtfertigen? Warum verurteilen wir den Genozid an den Armenier*innen durch das osmanische Reich als Völkermord, die Ermordung der Herero und Nama in den deutschen Kolonialgebieten jedoch noch nicht? Und was bedeutet diese Vergangenheit für uns in der heutigen Zeit?

Der Postkolonialismus hat sich zum Ziel gesetzt, derartige Fragen in die Wissenschaft einzuführen. Mittlerweile hat er seinen Platz unter den Grundbegriffen der Geisteswissenschaften gefunden. Als Strömung kam er in der Mitte des letzten Jahrhunderts parallel zu den Unabhängigkeitserklärungen vieler ehemaliger Kolonialgebiete auf. Einerseits betrachten postkoloniale Forscher*innen den Prozess der Dekolonialisierung, also den Abzug der Kolonialmächte und den anschließenden Aufbau unabhängiger Strukturen. Andererseits sollen mit Hilfe des Postkolonialismus verborgene Machtstrukturen aufgedeckt werden, die sich auch nach Ende der Kolonialisierung fortsetzten. Die Schriften bedeutender postkolonialer Denker*innen wie Homi K. Bhabha und Edward Said gehören zu Recht zum modernen wissenschaftlichen Kanon. Auch außerhalb der ehemaligen Überseekolonien wächst die Bedeutung der postkolonialen Methoden in der letzten Zeit enorm. Im öffentlichen Bewusstsein vieler Europäer*Innen scheint diese Bewegung allerdings noch nicht angekommen zu sein.

Orientalistisches Osteuropa

In Mittel- und Osteuropa ist die Bedeutung der postkolonialen Betrachtung in den letzten Jahren merklich gestiegen. Das liegt vor allem an den neuen Möglichkeiten, die die Wissenschaft in diesen Staaten gewonnen hat. Vor der Systemwende 1990 war an Aufarbeitung schlichtweg nicht zu denken. Im Vergleich zu den großen, relativ homogenen Flächenstaaten in West- und Mitteleuropa finden wir im Osten des Kontinents einen regelrechten Flickenteppich kolonialer Spannungsherde. Im heutigen Estland und Lettland beispielsweise gaben sich über Jahrhunderte hinweg deutsche, skandinavische, polnische, russische und zuletzt sowjetische Fremdherrschaften die Klinke in die Hand. In weiten Teilen Mitteleuropas wirken hingegen noch heute die Folgen wechselnder Machtverhältnisse nach – etwa unter osmanischer, russischer oder österreich-ungarischer Flagge. Wichtig ist: Die räuberische Unterwerfung afrikanischer, amerikanischer und asiatischer Völker kann und darf nicht mit der Unterjochung europäischer Völker im Rahmen von Kriegen und Kreuzzügen gleichgesetzt werden. Einzelne Mechanismen und Emotionen funktionierten in den fremdbeherrschten Gebieten aber durchaus ähnlich. Nicht zuletzt die Ukrainekrise hat uns dabei gezeigt, wie aktuell und blutig postkoloniale Emotion enden können. Eine umsichtige europäische Ukraine-Politik hätte diese Muster schneller erkennen müssen.

Ein anwendbarer Begriff des Postkolonialismus in Osteuropa ist der Orientalismus. Der von Edward Said geprägte Begriff bezieht sich auf die romantisierte Darstellung der Kolonisierten: Auf der einen Seite steht die exotische Anziehungskraft des*der Unterworfenen auf die machthabende Klasse, auf der anderen die Aberkennung jeglicher Selbstbestimmungskraft. Wie Orientalismus funktioniert, zeigen uns nicht nur Aufzeichnungen britischer Kolonialherren, die überzeugt waren, den „Wilden“ die Zivilisation zu schenken. Auch in den romantisierten Vorstellungen deutscher und schwedischer Siedler*Innen über die Völker Nordosteuropas ergänzen sich Bewunderung und Herrschsucht auf harmonische Art und Weise. Orientalistischer Paternalismus setzt sich aber auch in Kommentarspalten und Stammtischrunden des 21. Jahrhunderts fort: „Die Osteuropäer*innen“ werden dort schnell zu den Primitiven der Neuzeit erklärt.

Da viele der östlichen EU-Mitglieder auf eine eher kurze Existenzdauer als souveräne Nationalstaaten zurückblicken, finden viele Prozesse dort zwangsläufig später statt als in den westlichen Staaten, die dafür mehr Zeit hatten. Die Formierung nationaler Instrumente wie Parlamente, Ministerien und Rundfunkanstalten, die Führung öffentlicher Debatten oder die Festigung der Nationalsprachen etwa mussten in den neuen Ländern wesentlich schneller ablaufen. Das Fehlen dieser Reflexionszeit wird in westlichen Augen nicht selten als Unreife fehlinterpretiert. Diese Haltung unterschlägt, dass die Zeit unter Fremdherrschaft einen wesentlichen Teil zur Verspätung der Prozesse beiträgt. Der Grat zwischen westeuropäischem Paternalismus und postmodernem Orientalismus ist gering.

In Mittel- und Osteuropa nach Spuren des Kolonialismus zu suchen, ist keine neue Idee. Trotzdem ist dieser Ansatz für viele nicht mit ihrem Verständnis eines „klassischen“ Kolonialismus vereinbar. Hier geht es – im Gegensatz zum Diskurs in Frankreich und den Niederlanden etwa – nicht um Reparationsforderungen oder Kolonialwirtschaft. Wie tief Symptome verwurzelt sein können, lässt sich an zwei baltischen Beispielen nachvollziehen: Estland und Lettland gehörten über die Jahrhunderte sehr unterschiedlichen Einflussbereichen an. Trotz schwedischer und zaristischer Herrschaft besetzten dabei hauptsächlich deutsche Eliten wichtige Positionen. Die 800 Jahre währende Zeit der Fremdherrschaft wird in Estland Sklavennacht genannt. Sie ist bis heute zu einem Grundstein des historischen Selbstverständnisses geworden. Leid und Unterdrückung bilden ebenso wichtige Kernelemente der estnischen Identität wie der Sprung zur digitalen Vorzeigenation. Die sowjetische Vergangenheit wird oft aufgrund ihrer zeitlichen Nähe deutlich blutiger und schmerzhafter betrachtet als die schwedische oder deutschbaltische. Dennoch waren auch diese Abschnitte von Unterdrückung geprägt. Welche Teile der Fremdherrschaften als Element der eigenen Kultur angenommen werden, wird in der öffentlichen Debatte heute und vermutlich noch lange diskutiert.

Nordische Identitätskämpfe

Auch in anderen Teilen des Kontinents sitzen historische Traumata tief. Das zeigt sich unter anderem bei einem Blick auf die ehemaligen Expansionsreiche Nordeuropas. Die Sámi sind die indigenen Völker nördlich des europäischen Polarkreises. Mittlerweile sind sie integrative Bestandteile der Gesellschaften der nordischen Staaten. Dennoch treten noch immer häufig Kontroversen über sámische Identität, Selbstbestimmung und Landnutzung hervor. Immer wieder mündeten diese in Aufbegehren wie dem 1982 beendeten Alta-Konflikt. Die Selbstbestimmung der Sámi wurde in Finnland, Norwegen und Schweden seit den 1970ern zunehmend reevaluiert. Trotzdem zeigt sich, dass Jahrhunderte der Unterdrückung der eigenen Identität nicht spurlos an den Menschen vorbeigingen. Die Betrachtung der sámischen Völker als „geschichtslose Wilde“ und „Primitivlinge“ lieferte einst die Grundlage für die Bestrebungen Schwedens und Norwegens, die Indigenen des Nordens zu assimilieren. Mehrere Wissenschaftler*innen kritisieren, dass diese Muster sich unter der Oberfläche noch heute fortsetzen.

Das prominenteste Beispiel aktiver postkolonialer Debatten in Nordeuropa bildet aber vermutlich Grönland. Als frühere dänische Kolonie befindet sich der nordatlantische Staat noch in einem essentiellen kulturellen und politischen Verarbeitungsprozess. Im Europa der Gegenwart setzen sich koloniale Machtverhältnisse hier wohl am sichtbarsten fort. So trägt allein das Dänische nach wie vor ein größeres sprachliches Machtpotenzial als das Grönländische: Um Machtpositionen zu erreichen, ist Grönländisch also von Vorteil, Dänisch jedoch Pflicht. Auch die grönländische Identität als solche steht immer wieder im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Nicht erst Donald Trumps Ankündigung, Grönland kaufen zu wollen, hat die Frage nach der Bedeutung einer postkolonialen Staatsidentität wieder auf die Agenda gesetzt.

Mehr Fragen! Mehr Antworten! Mehr Verstehen!

2017 kam eine Studie an der Universität Liepāja zu dem Ergebnis, dass die Fluchtbewegungen 2015 in weiten Teilen der lettischen Bevölkerung postkoloniale Gefühle wieder ans Licht brachte. Besonders in der älteren Bevölkerung provozierte das kollektive Gedächtnis ablehnende Haltungen gegenüber Einwanderung. Diese Menschen hatten die sowjetische Okkupation Lettlands zu großen Teilen am eigenen Leib miterlebt. Auch wenn die Bezeichnung der Sowjetära als koloniale Phase keinen wissenschaftlichen Konsens findet, ist ihre postkoloniale Wirkung auf das kulturelle Gedächtnis in der Region so gut wie unumstritten. Die genannten Reaktionen allein als Rückwärtsgewandtheit oder Xenophobie abzutun, ohne Reaktionen und Emotionen in ihrem historischen und sozialen Kontext zu hinterfragen, ist für Europa äußerst gefährlich. Eins ist klar: Europäische Grundwerte sind unverhandelbar. Es soll und wird keine Eingeständnisse in Sachen Rechtsstaat, Demokratie oder Menschenwürde geben. Doch denken wir an unser Leitmotto: in Vielfalt geeint. Dazu gehört eben auch, dass wir Dinge anders erleben, sehen und bewerten. Unsere Erfahrungen, Kulturen und Geschichten wirken sich auf unsere Wertvorstellungen aus.

Ziel postkolonialer Ansätze auf europäischem Boden ist nicht, blutige Schreckenstaten des Überseekolonialismus zu verharmlosen. Genauso wenig soll klammheimlich der Weg für einen europäischen Ethnozentrismus geebnet werden. Historische Traumata in unserer eigenen Nachbarschaft zu untersuchen und zu hinterfragen, sollte jedoch den Grundstein für ein besseres Miteinander legen. Es gibt keinen prototypischen Postkolonialismus. Deswegen sind diese Spannungen auch nicht unbedingt auf den ersten Blick sichtbar. Wir sollten diese Umstände jedoch im Hinterkopf behalten. Mit europäischem Peripheriedenken, in dem unser Tellerrand sich auf Brüssel, Berlin und Paris beschränkt, schaden wir uns langfristig selbst. Ansätze spielen in der europäischen Politik bei der Frage nach Beweggründen und Einstellungen eine essentielle Rolle. In das europäische Bewusstsein müssen diese jedoch noch Einzug erhalten.


Zum Weiterlesen:
Kärt Kelder (2020): Nõukogude perioodi uurimine on kui paraneva haava lahtikiskumine. (Die Erforschung der Sowjetzeit ist wie das Aufreißen einer heilenden Wunde)
Marte Spangen, Anna-Kaisa Salmi, Tiina Äikäs (2014): Sámi Archaeology and Postcolonial Theory—An Introduction.
Ulrik Gad (2009): Post-colonial identity in Greenland?: When the empire dichotomizes back — bring politics back in!
Sandra Veinberg (2017): The consequences of colonialism in Latvia during a mass migration period in Europe (2015/2016).


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