11.11. kurz vor 11 Uhr vormittags in Krakau. Es nieselt, wie so oft in den letzten Tagen. Ein atmosphärischer Auftakt für einen bedeutenden Tag, den die Wettergötter scheinbar nicht in seiner Tragweite erkannt haben – den polnischen Unabhängigkeitstag. Eine mit rot- und weißen Luftballons geschmückte Straßenbahn fährt vorbei. Sie ist mit zwei stolz geschwenkten weiß-roten Fahnen an ihrer Front geschmückt, die wie zwei Hörner emporragen. Weiß-rot: eine Farbkombination, welche die Stadt heute dominieren soll: sei es die weiß rote-Bauplane an den Häusern, die polnische Startseite von Google, der patriotische Blumenschmuck an den öffentlichen Plätzen oder die Fahnen, die heute die Straßen säumen und von tausenden Menschen geschwenkt werden. Die Straßenbahntüren öffnen sich. Mehrere Mädchen kommen zum Vorschein, die in Folklorebekleidung zwischen den Passant*innen in der U-Bahn gedrängt stehen und ein polnisches Volkslied anstimmen. Einige Schüler*innen springen aus der Bahn und schwenken ihre Fahnen, bevor die Fahrt weiter geht. Hinter der Bahn fügen sich Militärfahrzeuge diskret in den Straßenverkehr ein. Ihnen zu folgen, lohnt sich: Sie steuern eins der Großereignisse an, das an diesem Tag am Matejko Platz stattfinden soll.
Proben, Posieren, Patriotismus
Hier, auf dem plac Jana Matejki, wie der Platz auf polnisch heißt, werden Proben abgehalten, Soldat*innen wiederholen ihre Schritte, um sicherzustellen, dass dieser denkwürdige Tag reibungslos verläuft. Zwischen ihnen schlängeln sich Krakauer*innen, posieren für Fotos mit den Soldat*innen oder vor dem Denkmal von Grunwald, das an die Schlacht von Tannenberg (1410) erinnert. Immer mehr Menschen drängen sich um den Platz und versuchen eine Position zu finden, von der sie das Spektakel wenigstens ein bisschen sehen können. Langsam trudeln auch die wichtigen Persönlichkeiten Krakaus und der Woiwodschaft (=Verwaltungsbezirk) Kleinpolens ein. Sie nehmen auf extra beschrifteten Stühlen unter einem Zelt Platz und frieren mit dem Publikum um die Wette.
Soldaten am polnischen Unabhängigkeitstag in Krakau, Polen. Foto: Clara Hoheisel
Präludium des Nationalfeiertags
Endlich, kurz nach 12 Uhr, als der Platz zum Bersten gefüllt ist, schicken die Polizist*innen die letzten Besucher*innen hinter den abgesperrten Bereich. Eine Militärkapelle betritt den Platz, gefolgt von verschiedenen militärischen Einheiten, die in geordnetem Marsch Eindruck schinden. Spätestens als einige Soldat*innen ihre Gewehre anlegen und in die Luft schießen, traut sich keins der Kinder im Publikum mehr etwas zu sagen. Alle starren gebannt auf das Spektakel. Mehrere kurze Reden werden gehalten und an die Bedeutung des Unabhängigkeitstags erinnert.
1918: Polens Wiedergeburt
Was diesen Tag so besonders macht, offenbart ein Blick in die Geschichte. Am 11. November 1918, nach 123 Jahren der Teilung durch das Königreich Preußen, das russische Zarenreich und die Habsburgermonarchie wurde der polnische Staat, als Ergebnis der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, wiederhergestellt. Józef Piłsudski übernahm den Oberbefehl über die polnischen Truppen und markierte damit das Ende einer über ein Jahrhundert langen Phase der Teilung und nationalen Unterdrückung. Der 11. November erinnert seither an die Errichtung eines souveränen polnischen Staates in Europa.
Missverständnisse: deutsche – vs. polnische Geschichte
Ein Vergleich mit dem Tag der Deutschen Einheit am 03. Oktober, der als wichtigster deutscher Nationalfeiertag gilt, drängt sich auf, muss jedoch sofort wieder verworfen werden. In der polnischen Historie spiegelt sich das Erbe zahlreicher gescheiterter Aufstände wider. Über 123 Jahre lang wurde ein Kampf für die Freiheit gegen Russland, Deutschland und Österreich geführt, was eine Ära nationaler Unterdrückung und Teilung prägte. Trotz des erfolgreichen Freiheitskampfes, der zur Ausrufung des polnischen Staates im Jahr 1918 führte, stand diese Freiheit zunächst auf wackligen Beinen.
Der polnisch-sowjetische Krieg sowie die Grenzkriege mit Deutschland und Litauen unterstreichen deutlich, dass die polnische Erfahrung eine gänzlich andere ist als die deutsche Einheit, die im Rahmen eines größeren, friedlichen Umbruchs 1989/90 in Europa am Verhandlungstisch festgelegt wurde: Der Tag der Deutschen Einheit erinnert an die friedliche Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik im Jahr 1990. „Es ist wichtig zu verstehen, dass die deutsche und polnische Geschichte sehr unterschiedlich verlaufen sind“, meint der Osteuropaexperte Professor Jan C. Behrends. „Das ist auch ein Grund dafür, dass es Missverständnisse zwischen Deutschland und Polen gibt: Man blickt auf ganz unterschiedliche Traditionen und Geschichten zurück“, erklärt der deutsche Historiker, der zu den Schwerpunkten Zeitgeschichte Osteuropas, Stadtgeschichte, europäische Diktaturen, Gewaltforschung und postsowjetische Zeit am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam forscht. Außerdem hat er die Professur „Diktatur und Demokratie – Deutschland und Osteuropa von 1914 bis zur Gegenwart“ an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) inne.
Kaleidoskop der Eindrücke
Zurück auf dem Krakauer Marktplatz pulsiert das Leben, als hätte sich die gesamte Stadt versammelt. Viele Besucher*innen tragen einen rot-weißen Anstecker, einige Frauen haben einen Blumenkranz im Haar. Selbst für Spontane gibt es eine Lösung: An verschiedenen Ständen lassen sich in letzter Minute charakteristische rot-weiße Accessoires erwerben. Im Zentrum des Geschehens erhebt sich eine imposante Bühne, die den ganzen Tag über von verschiedenen Konzerten belebt wird. Zwischen den musikalischen Darbietungen durchziehen Ansprachen zur Bedeutung der polnischen Unabhängigkeit die Luft, die das Publikum zu gemeinsamen Rufen, wie „1,2,3 - Polen!“ animieren. Die Atmosphäre ist durchdrungen von Stolz und Einheit, und es erweist sich als nahezu unmöglich, sich dem mitreißenden Sog der Begeisterung zu entziehen.
Tausendstimmiger Chor der Freiheit
Kurz vor 17 Uhr wird es dunkel in Krakau. Auf dem Marktplatz bildet sich ein Meer aus Regenschirmen. Die Menschen blicken gespannt auf die Bühne. Nun findet das gemeinsame Singen der polnischen Volkslieder statt, eingeleitet von einem gemeinsamen Geburtstagslied für Polen. Danach kündigt der Moderator das erste polnische Lied an, der Text dazu erscheint auf einer großen Leinwand. Und dann singt Krakau gemeinsam – groß oder klein, alle bilden einen tausendstimmigen Chor, der noch hunderte Meter entfernt zu hören ist.
Europäische Realität
So friedlich die Veranstaltungen am Unabhängigkeitstag in Krakau auch wirken mag – das ist nicht überall der Fall. Bei einem Blick in die Online-Berichterstattung wird deutlich, weshalb jede*r davor warnt, an diesem Tag nach Warschau zu fahren: Die feierlichen Veranstaltungen in der Hauptstadt werden jährlich durch einen der größten rechtsextremen Aufmärsche Europas überschattet, da rechte Gruppierungen den Tag für ihre Agenda missbrauchen. Nachrichten über Ausschreitungen in der polnischen Hauptstadt dominieren auch in diesem Jahr die Nachrichtenseiten: Der Unabhängigkeitsmarsch zieht durch Warschau, begleitet von antieuropäischen Parolen und dem Narrativ über die ‚Ukrainisierung‘ Polens. Rufe gegen das Recht auf Abtreibung gehen während des Marschs in Beleidigungen gegen LGBT+-Menschen über. Selbst Personen, die sich vom Stadtzentrum fernhalten, können in den umliegenden Vierteln Rauchschwaden erkennen. Die Polizei ist überall präsent, Hubschrauber kreisen und laute Techno-Musik dominiert die Geräuschkulisse. Ein dystopisches Bild sei das gewesen, berichten Augenzeug*innen, verstärkt durch das graue Regenwetter.
Demonstrant*innen während des Unabhängigkeitsmarsch in Warschau. Foto: Benedikt Putz
„Das ist kein speziell polnisches Phänomen“
„Das ist kein speziell polnisches Phänomen“, betont Professor Behrends. „In jedem Land ist die Nation ein umstrittenes Thema. Immer wieder versuchen politische Gruppierungen, diesen Begriff mit Inhalten zu füllen.“ Während der Wahl zeigte sich in Polen eine starke Mobilisierung für ein ziviles, bürgerliches Polen, insbesondere unter jungen Menschen. Dennoch existieren auch Gruppen, die sich für ein autoritäres, nationalistisches Polen einsetzen und gerade an nationalen Feiertagen ihre Agenda in den Vordergrund rücken. „Das mag unangenehm sein, ist jedoch nicht unbedingt überraschend und keinesfalls exklusiv für Polen“, erklärt Behrends. „Eine starke rechte Bewegung findet sich beispielsweise auch in Frankreich mit dem Rassemblement National. Leider ist diese Tendenz ein Teil der europäischen Realität“.
Freiheit, Nationalismus und Debatte
Blumenkränze und Folklore in Krakau, während in Warschau Rauschwaden und rechtsextreme Märsche dominieren – ein Kontrast, der kaum größer sein könnte. Inmitten der Festlichkeiten und der geschichtsträchtigen Tradition des Unabhängigkeitstags in Polen bleibt eine zentrale Botschaft bestehen: die Wertschätzung der hart erkämpften Freiheit und Unabhängigkeit des Landes. Doch dieser feierliche Anlass wirft auch einen Schatten auf die nationale Szene, durchzogen von anhaltenden Debatten über Nationalismus und einer bedenklichen politischen Instrumentalisierung des Feiertags.
Kommentare verfolgen: |