Politische Lügen auf dem Prüfstand

Wahrheit machen.

, von  Lukas G. Schlapp, Timon Satzky

Wahrheit machen.
Foto: Unsplash / Pawel Czerwinski / Lizenz, Wikimedia / Sandro Halank / Lizenz, Pixabey / geralt / Lizenz, Pixabey / geralt / Lizenz, Pixabey / wikilmages / Lizenz. Lügen haben kurze Beine. Aber auch für Politiker*innen?

Auf den ersten Blick wünschen sich viele eine Welt ohne Lügen. Auf den zweiten Blick ist es aber manchmal gar nicht so schlecht, von der Wahrheit abzuweichen. Die Höflichkeitslüge kennen wir alle, wenn wir jemanden nicht unnötig auf den Schlips treten wollen. Oder die Notlüge, um einer unangenehmen Situation zu entfliehen. Bei Politiker*innen und anderen Verantwortungsträger*innen fordert die Öffentlichkeit jedoch nahezu immer die absolute Wahrheit ein. Aber wo und wie lügen Volksvertreter*innen eigentlich? Und könnte ein neues europäisches Grundrecht die politische Realität verändern?

„Sagen, was ist.” Drei vielzitierte Wörter – vor allem im Journalismus. Der Satz hat es nicht nur vielfach in Zeitschriften und auf Bildschirme geschafft, sondern in metallischen Buchstaben auch an die Wand des Spiegel-Verlagshauses. Von dort blickt er auf die Mitarbeiter*innen des Spiegels, die das Gebäude durch die Eingangshalle betreten. Doch zu Beginn des Jahres 2022 war der Anblick des Schriftzugs nicht mehr nur den Angestellten und Gäst*innen des Verlags vorbehalten. Denn in Beiträgen der Tagesthemen oder dem Heute-Journal waren die eisernen Lettern des Leitspruchs von Spiegel-Gründer Rudolf Augstein sichtbar. Doch Politskandal oder eine epochale Enthüllung – wie man sie vom Spiegel gewöhnlich erwartet – gab es in diesem Fall nicht. Der Grund für die Berichte war diesmal eher trivialer Natur: Am 4. Januar 2022 feierte der Spiegel sein 75-jähriges Bestehen.

Das Zitat des 2002 verstorbenen und langjährigen Spiegel-Herausgebers hat in seinen 61 Jahren, seit Erstnennung nichts an seiner Klarheit verloren. „Sagen, was ist“ ist sowohl Selbstverständnis des Spiegels, Arbeitsanweisung an die eigenen Journalist*innen als auch Drohung an diejenigen, für welche die Wahrheitsfindung und -beschreibung nicht im Fokus steht. Der Fall Relotius deckte eindrucksvoll auf, dass das Selbstverständnis für mindestens einen Mitarbeiter keine Selbstverständlichkeit war. Die Geschichten des jungen Spiegel-Reporters, der einen Preis nach dem anderen gewann, fußten auf kurzen Beinen. Relotius schrieb runde Geschichten, die alles erfüllten. Sie waren spannend, verständlich, oft anrührend. Verloren aber ihre Grundbedingung – den Informationscharakter – da Relotius nicht nur sagte, was war, sondern auch was gut dazu passen könnte. Die Faktenchecker*innen des Spiegels bemerkten nichts und ließen den Starreporter gewähren. Auch rückblickend verwunderlich bei einer Redaktion, die einst so sehr für ihren investigativ-kritischen Journalismus bekannt war.

Investigativ durch das Internet

Das World Wide Web bietet dem investigativen Journalismus ganz neue Möglichkeiten. Wo früher Spionage betrieben werden musste, um an verborgene Inhalte zu gelangen, hinterlässt heute jede Bewegung im Internet Spuren. Dies macht sich die Open-Source-Recherche-Plattform „bellingcat“ zunutze.

2014 durch Eliot Higgins aus Großbritannien gegründet, benutzen die Autor*innen und Redakteur*innen dieser Plattform alle öffentlich zugänglichen Informationen, die in den Weiten des Internets zu finden sind. Darunter fallen jegliche Daten, Postings, Telefonlisten, Ortsangaben, Nummernschilder, Aufnahmen von Überwachungskameras, etc.

Mit diesen Quellen konnte Bellingcat bereits zahlreiche Fälle aufdecken. Beispielsweise die Vergiftung von Sergej Skripal in Salisbury, durch den russischen Auslandsgeheimdienst im Jahr 2018. Dort machte das Netzwerk die Namen der Täter ausfindig. Im Herbst 2020 fand das Netzwerk zahlreiche Informationen über die Attentäter von Alexej Nawalny, die ihn in Russland mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet haben. Aber auch über die Identitäten, der an dem Sturm auf das amerikanische Kapitol in Washington DC, beteiligten Demonstranten recherchierte das Netzwerk.

Im Gegensatz zu staatlichen Geheimdiensten, die auf unveröffentlichte Dokumente zurückgreifen, macht sich das bellingcat-Netzwerk öffentliche Daten zunutze. Durch eine digitale Spurensuche wird der Vorgang wie bei der Forensik rekonstruiert, um die Wahrheit systematisch aufzuklären und Fakten und Beweise offenzulegen.




Wenn Politiker*innen lügen

Kritisch über die Mächtigen und Regierenden zu berichten, deren Aussagen zu überprüfen und Politiker*innen an deren Versprechen zu messen: Eine journalistische Leitlinie, die viele Medien der Politikberichterstattung so unterschreiben würden. Doch besonders der Spiegel verstand es in der noch jugendlichen Bundesrepublik mit kritischer Berichterstattung – die etwa zur Spiegel-Affäre führte – seinen Sonderstatus in der deutschen Medienlandschaft als „Sturmgeschütz der Demokratie“ zu etablieren. Kanonenfutter gab es immer reichlich. Denn gelogen, getrickst und schöngeredet wurde in der Politik schon jeher.

Warum auch nicht? Wohl jeder Mensch lügt. Im Beruf, wenn unsere Mittagspause auf dem Papier immer exakt 30 Minuten dauert. Im Privaten, wenn wir versprechen, dass es bei dem einen TikTok-Video bleibt. In der Öffentlichkeit, wenn wir von jungen Männern und Frauen in blauen Unicef-Shirts gefragt werden, ob wir einen Moment Zeit hätten. Der Journalist Jürgen Schmieder unterzog sich 40 Tage lang dem Selbstexperiment nicht zu lügen und stellte fest, wie weit die Lüge in jeden Lebensbereich Einzug gehalten hat. Wieso sollte dies in der Politik anders sein? Verhandelt wird dort nicht weniger als das komplexe Miteinander einer diversen Gesellschaft. Die Professorin für Politische Theorie Barbara Zehnpfennig stellte dazu in ihrem Essay fest: „Die politische Lüge ist so alt wie die Politik selbst, und sie wird uns nicht verlassen, solange Menschen über Menschen herrschen.“

Gelogen wurde politisch überall. Im UN-Sicherheitsrat, als U.S.-Außenminister Colin Powell der internationalen Staatengemeinschaft versicherte, dass der Irak unter Saddam Hussein über Massenvernichtungswaffen verfüge. Später bedauerte Powell seine Rede; die Invasion war da freilich schon beendet. Auch in Hessen wurde gelogen: So sprach sich die damalige SPD-Linke und Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti vor der Wahl gegen eine Zusammenarbeit mit der Linken aus und versicherte im Januar 2008 auf Nachfrage: „Bei meinem Nein zu Rot-Rot bleibt es auch nach dem Wahlabend. Garantiert.“ Wenige Wochen später war diese Vehemenz dann gewichen, Ypsilanti stand vor der Option Neuwahlen oder Regieren. Sie entschied sich für die Machtoption, scheiterte dabei aber an ihrer eigenen Fraktion. 2013 versprach Angela Merkel im TV-Duell mit Peer Steinbrück vor Millionen Zuschauer*innen, dass es mit ihr keine PKW-Maut geben würde, obwohl ihr bewusst war, dass die Schwesterpartei CSU genau dies forderte. Ein Jahr später und nach der Koalitionsbildung stellte sie dann fest: „Die Maut steht im Koalitionsvertrag, und sie wird kommen.“ Sie kam nicht.

Die Causa-Wulff: Wahrheit im Getriebe zwischen Politik und Medien

Wie der folgende Fall des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff zeigt, kann journalistische Berichterstattung dann zum Problem werden, wenn der Wahrheitsfindungsprozess der Redaktionen in der Öffentlichkeit ausgetragen wird. Vermutungen und Halbwahrheiten werden so schnell zu unwiderruflichen Fakten, die gegen jegliche Erklärungsversuche resistent sind. Christian Wulff scheint diesem Prozess zum Opfer gefallen zu sein.

Der Politiker Christian Wulff gilt bereits in den 1990er Jahren als großer politischer Hoffnungsträger. Schnell wurde er Oppositionsführer unter dem damaligen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder. Im Jahr 2010 wurde er von der Bundesversammlung mit 51 Jahren zum jüngsten Bundespräsidenten in der Geschichte der Bundesrepublik gewählt. Mit 598 Tagen hatte Christian Wulff die bisher kürzeste Amtszeit inne, nachdem er aufgrund hohen öffentlichen Drucks am 12. Februar 2012 zurücktrat.

Ausgangspunkt dieses Falles war ein privates Darlehen in Höhe von 500.000 Euro, welches Christian Wulff zur Finanzierung seines Hauses von der Frau eines bekannten Unternehmers erhielt. Auf Anfrage des niedersächsischen Landtages wurde Wulff dazu befragt, ob er denn wirtschaftliche Beziehungen zu dieser Unternehmensfamilie pflege. Dies beantwortete Wulff damals noch als Ministerpräsident mit „Nein“. Den Kredit durch die Frau des Unternehmers verschwieg er, explizit gelogen hatte er nicht.

In diesem Zusammenhang plante die „Bild“-Zeitung über die unklare Finanzierung seines Einfamilienhauses zu berichten. Zu dieser Zeit befindet sich Wulff in seiner Funktion als Bundespräsident auf Auslandsreise in Kuwait und bittet den damaligen Bild-Chefredakteur Kai Diekmann in einem persönlichen Anruf darum, die Veröffentlichung des Artikels bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland zu verschieben. Da Diekmann den Anruf nicht annehmen kann, wird Wulffs Nachricht auf Mailbox aufgezeichnet. Die „Bild“-Redaktion sieht in der vermeintlichen “Bitte” des Anrufs eine Einflussnahme in die Pressefreiheit. Und obwohl die „Bild“ mit der Veröffentlichung wartete, gelangen Absatzweise Teile der abgedruckten Mailbox-Nachricht an die Öffentlichkeit.

Die unklare Finanzierung seines Hauses und der Anruf an den Bild-Chefredakteur wurde zum Politikum und zahlreiche Medien stürzten sich auf den Medienstar Christian Wulff. Die Negativspirale war nun im vollen Gange und Wulff konnte dabei zusehen, wie seine gesamte politische Vergangenheit durchleuchtet und veröffentlicht wurde. Spekulationen über den Verstoß gegen die niedersächsische Verfassung, frühere Verbindungen zu Banken, die Finanzierung seiner Urlaubsreisen, und sogar unwahre Gerüchte über die Prostitution seiner Frau Bettina Wulff - alle Themen kamen auf den Tisch.

Bei diesen Veröffentlichungen lässt einen der Eindruck nicht los, dass medienstrategisch diese Affäre ein Verkaufsschlager war und jede neue Meldung über vermeintlich neue Fehltritte nicht der journalistischen Wahrheitsprüfung unterlegen waren. Falsche Schlussfolgerungen, absichtliche Fehlinterpretationen und eine medial geführte öffentliche und teilweise würdelose Hetzjagd waren die Folgen.

Christian Wulff gelang in eine Defensivhaltung, aus der er trotz anfänglicher Bemühungen und Erklärungsversuche nicht mehr herauskam. Selbst die Lieferung seiner Brötchen ins Schloss Bellevue aus einer Niedersächsischen Bäckerei, wurde zum Top-Thema in deutschen Redaktionen. Die Absurdität der Berichterstattungen kannte keine Grenzen. 2012 war nach der Aufhebung seiner Immunität durch die Staatsanwaltschaft in Niedersachsen der Druck der Medien so groß geworden, dass Christian Wulff von seinem Amt zurücktrat. Im Jahr 2014 wird er zwei Jahre nach seinem Rücktritt vom Landgericht Hannover von den gegen Ihn vorgebrachten Vorwürfen freigesprochen.




Aber allein bei den Aussagen zur PKW-Maut wird deutlich, dass oft vom Lügen gesprochen wird, ohne dass klar ist, ob jeder dasselbe meint. Denn was ist eigentlich eine Lüge? Merkels kaum haltbares Versprechen, dass es mit ihr keine PKW-Maut geben würde? Merkels Voraussicht, dass die Maut kommen werde, aber am Ende doch am EuGH scheiterte? Elif Özmen, Philosophie-Professorin in Gießen, zählt in ihrem Aufsatz Why Trump is not King Liar vier Merkmale der Lüge auf: (1) Das Gesagte ist falsch. (2) Die*der Sprecher*in weiß, dass das Gesagte falsch ist. (3) Das Gesagte soll vom Gegenüber geglaubt werden. (4) Die Täuschung des Gegenübers verfolgt eine Absicht. Doch ganz schön kompliziert dieses Lügen.

Simple Lösungen gefällig?

Aber wie sollte mit Politiker*innen, die nach allen vier Merkmalen lügen, umgegangen werden? Man könnte kaum behaupten, die Öffentlichkeit sei machtlos gegen lügende Volksvertreter*innen. Karl-Theodor zu Guttenberg und Annette Schavan stolperten über ihre abgeschriebene Doktorarbeit heraus aus ihren politischen Karrieren. Nicht aus Eigenverantwortung, jedoch nach Druck aus Medien, Politik und der Bevölkerung. Die CDU-Spendenaffäre wird Helmut Kohls politisches Erbe immer zum Teil trüben. Der ehemalige Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns Lorenz Caffier kaufte eine Waffe von einem Mitglied einer rechtsextremen Gruppierung. Bei der medialen Aufarbeitung verstrickte er sich derart in Widersprüche, dass der Rücktritt am Ende alternativlos erschien. Aber auch wenn Politiker*innen einen politischen Skandal um eigene Lügen durchstehen wollten; die Wähler*innen hätten bei jeder Neuwahl die Möglichkeit Kandidat*innen mit Münchhausen-Komplex abzustrafen.

Doch das geht dem Schriftsteller Ferdinand von Schirach und seiner Initiative Jeder Mensch nicht weit genug. Das Ziel der Initiative ist, sechs neue Grundrechte für Europa zu etablieren. Die Auswahl der meisten Ziele scheint erstmal naheliegend: Umweltschutz, die Stärkung des Individuums im Zeitalter von Digitalisierung und Globalisierung. In anderen Menschenrechtschartas so nicht niedergeschrieben. Jedoch Herausforderungen, die durch technologische und wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte neue Bedeutung erhalten haben. Artikel 4 fällt nur auf den ersten Blick aus diesem Schema.

Artikel 4 – Wahrheit
Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.



Bijan G. Memarzadeh A., Autor bei treffpunkteuropa.de, hatte die Grundrechte bereits in einem Artikel in den ersten Monaten nach Veröffentlichung beleuchtet. Zur Notwendigkeit des Wahrheit-Artikels habe er sich immer wieder Gedanken gemacht. „Die Technisierung und Globalisierung der Welt haben auch Einfluss auf das, was wir Wahrheit nennen. Die sozialen Netzwerke, fake news, alternative facts oder Trump. Für den eigenen Vorteil wird immer mehr zu Falschaussagen gegriffen.“ Memarzadehs Beschreibungen decken sich mit einer gesellschaftlichen Veränderung, die 2016 zum Wort des Jahres wurde – postfaktisch. Politische und gesellschaftliche Diskussionen werden immer mehr von Emotionen und Narrativen dominiert. Fakten und wissenschaftliche Erkenntnisse werden dabei verdrängt. Die Wahrheit rückt in den Hintergrund – Dünger für die Lüge. Ein Wandel, der sich auch durch eine Studie der Universität Bamberg belegen lässt.

Das Recht auf Wahrheit ist doch nichts Neues!

Das Recht auf Wahrheit wird bereits seit Jahrzehnten im Völkerrecht diskutiert. Konkret wurde die Debatte jedoch erst in den 1970er-Jahren, als sie ernsthaft in den Zusammenhang mit Menschenrechten gestellt wurde. Laut José Brunner und Daniel Stahl, die das Buch „Recht auf Wahrheit. Zur Genese eines neuen Menschenrechts“ geschrieben haben, ging es hierbei im Wesentlichen um zwei Dinge: Erstens, um Hilfe und Aufklärung bei der Suche nach Wahrheit über das Schicksal von verschleppten Menschen, insbesondere durch autoritäre Staaten in südamerikanischen Militärdiktaturen. Zweitens, um die Aufarbeitung von staatlichen Gewaltverbrechen und Menschenrechtsverstößen im Allgemeinen, insbesondere durch Staaten der östlichen Integrationszone des Kalten Krieges.

Das Recht auf Wahrheit steht somit traditionsgemäß in einem engen Verhältnis zu den Menschenrechten und ist demnach nicht direkt auf den Wahrheitsgehalt einer Aussage eines Amtsträgers reduziert. Die Suche nach Wahrheit wird in akademischen Kreisen in zwei Richtungen diskutiert: von oben und von unten.

Die Wahrheitssuche von oben meint in diesem Zusammenhang die Aufklärung von staatlichen Institutionen oder von speziell dafür eingerichteten Komitees oder Gerichtshöfen. Diese finden sich bereits während des Ersten Weltkriegs wieder und wurden seitdem weltweit angewandt. Besonders bekannte internationale Gerichtshöfe zur Wahrheitsfindung im Zusammenhang mit Menschenrechten sind der Internationale Strafgerichtshof der VN in Den Haag oder der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien. Beide Gerichtshöfe befassen sich im Wesentlichen mit den vier Kernverbrechen des Völkerstrafrechts: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression und Kriegsverbrechen. In dieser internationalen Auslegung des Rechts auf Wahrheit lassen sich sicherlich auch die Nürnberger Prozesse als wegweisende Entwicklung hin zu einem universellen Menschenrecht auf Historischer Wahrheit sehen.

Die Wahrheitssuche von unten meint in diesem Zusammenhang die Aufklärung von gesellschaftlich getragenen Organisationen wie beispielsweise Amnesty International, die sich weltweit für Menschenrechte einsetzt. Den Bezug zur Wahrheit fand die NRO insbesondere nach den Erfahrungen südamerikanischer Zivilgesellschaften, die über den Verbleib entführter Angehöriger recherchierten und historische Wahrheit dokumentieren wollten. In den frühen 2000er Jahren wurden schließlich „disappearances“ (Verschwinden) als neue Menschenrechtsverletzung durch die VN-Generalversammlung aufgeführt und von Amnesty International aufgenommen. Das Recht auf Wahrheit wird vor diesem Hintergrund eng mit der Verpflichtung staatlicher Institutionen zur wahrhaftigen Aufklärung von Verbrechen gesehen.



Artikel 4 möchte dieses gesellschaftliche Klima in Deutschland und Europa nicht einfach so hinnehmen. Äußerungen von Amtsträgern müssen dann der Wahrheit entsprechen. Während der Begriff der Äußerung wohl eindeutig ist, sorgen Wahrheit und Amtsträger hingegen für Kontroversen. Fakt ist jedoch, dass beide Begrifflichkeiten im deutschen Rechtssystem schon Anwendung finden. Sogar im deutschen Grundgesetz findet sich in Art. 42 Abs. 3 der Begriff „wahrheitsgetreue“ – der in seinem Zusammenhang „sachlich richtig“ bedeutet. Auch jede Medienkammer vor Landgerichten beschäftige sich in hunderten Verfahren pro Jahr mit der Frage, ob eine unwahre Tatsachenäußerung getätigt wurde, so der Rechtsanwalt Remo Klinger. Dieser hatte Schirach gemeinsam mit anderen Juristen bei der Erstellung der neuen Grundrechte beraten und ist Mitglied der Stiftung Jeder Mensch.

Auch die Bestimmung des Begriffs Amtsträger ist in Deutschland keine Neuschöpfung. Nach der Legaldefinition in § 11 StGB wären Amtsträger „nicht nur Beamte oder Richter, sondern auch Menschen, die in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis stehen, wie der Kanzler, Minister, parlamentarische Staatssekretäre oder Parlamentspräsident“, so Klinger. Er stellt aber auch fest: „Da sich unser Vorschlag an die europäische Ebene richtet, kann die genaue Definition durch einen Verfassungskonvent auch anders vorgenommen werden.“ Bijan Memarzadeh spricht sich beispielsweise dafür aus, dass auch Abgeordnete und Vertreter*innen großer gesellschaftlicher Organisationen wie der Kirche oder von Gewerkschaften darunterfallen.


Ein Graubereich wird bleiben

Doch auch eine neue europäische Grundrechtscharta mit klaren Rechtsdefinitionen vermag nicht, die politische Lüge zu verbannen. Das muss sie jedoch auch nicht. Es wäre bereits ein Fortschritt, wenn das Lügen von Amtsträger*innen in der Rechtsordnung besonders herausgearbeitet würde. Die Sorge, jede Halbwahrheit eines*r Politiker*in und jeder versehentliche Zahlendreher eines*r Beamt*in würde vor den Europäischen Gerichten verurteilt werden, ist unbegründet. Zum einen braucht es systematische Verletzungen gegen die Artikel der Charta, damit eine Klage erhoben werden kann, zum anderen wird man in die Richter*innen vertrauen können. Diese werden versehentliche Irrtümer von mutwilligen Lügen zu unterscheiden wissen.

Wenn die Furcht vor einer Grundrechtsklage verhindert, dass sich das systematische Lügen à la Trump bei europäischen Volksvertreter*innen einbürgert, wäre dies bereits eine Stärkung der Demokratie. Ein absolutes Lügenverbot braucht es wohl nicht – nicht einmal in der Demokratie. Ein Graubereich zwischen Lügen und Wahrheit wird bestehen bleiben – und darf es auch. Mit einer Politik der absoluten Wahrheit und der strikten Transparenz wären viele nicht nur überfordert, es würde auch realpolitischen Bedingungen negieren. Politiker*innen werden sich in heiklen Situationen zu helfen wissen. Eine Wahrheit vorzuenthalten, um damit beispielsweise Menschen zu schützen oder andere Grundrechte nicht zu verletzen, wäre ebenfalls nicht gleichzusetzen mit einer gewollten Lügerei. Man erinnere an Thomas de Maizière, der 2015 auf die Frage nach den konkreten Anschlagsplänen beim Nationalmannschaftsspiel in Hannover antwortete: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“


Politiker*innen sollen nicht lügen. Würde das bedeuten, dass sie immer die Wahrheit sprechen müssen? (Quelle: Pexels | Foto: Brett Jordan)


Auf den ersten Blick würde die Einführung dieser Grundrechte vielleicht nicht jede*n Journalist*in freuen. Der Spiegel würde um manche exklusiven Enthüllungsskandale fürchten, wenn das politische Lügen daraufhin einen Abschwung erlebt. Der Job des*r Gerichtsreporter*in jedoch würde wohl an Attraktivität gewinnen. Denn schon bald müssten sich systematisch lügende Amtsträger*innen in Luxemburg vor Gericht verantworten. Das neugeschaffene Fachgericht für Wahrheitsfindung wäre regelmäßig in Heute-Journal und Tagesthemen zu sehen. An der Wand der Kammer vielleicht ein metallischer Schriftzug. Sagen was ist. Als Selbstverständnis, Arbeitsanweisung und Drohung versteht sich.

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