Nicht nur ein Kapitel in den Geschichtsbüchern

Warum wir 2019 erst recht über Antisemitismus reden müssen

, von  Marie Menke

Warum wir 2019 erst recht über Antisemitismus reden müssen
Installation im Jüdischen Museum Berlin, in der sich drei Künstler*innen mit der Konstruktion jüdischer Identitäten heute beschäftigen. Foto: Unsplash / Nick Fewings / Unsplash License

Der Anschlag auf eine Synagoge in Halle hat gezeigt, was Statistiken und Studien schon lange beweisen: Antisemitismus in Deutschland wird in seinem Ausmaß und seiner Gewalt unterschätzt. Rachel Liven ist 25, Kölnerin, Buch- und Hundeliebhaberin, Lehramtsstudentin und Jüdin. Im Interview erzählt sie, wie es ist in einer jüdischen Gemeinde in Deutschland aufzuwachsen, warum Antisemitismus in den vergangenen Jahren schlimmer geworden ist und wie nicht-jüdische Menschen Solidarität zeigen können.

Wenn du jemandem Antisemitismus erklären sollst, wo fängst du an?

Antisemitismus ist Jüd*innenfeindlichkeit. Oft sitzt Antisemitismus aber viel tiefer, als wir denken: Es geht eben nicht nur darum, dass Beleidigungen wie „Du Judensau!“ fallen. Es geht auch darum, dass viele zum Beispiel denken, dass man Israel kritisieren solle, und das machen, indem sie sagen, die Israelis würden heute dasselbe mit den Palästinenser*innen machen wie Hitler im Zweiten Weltkrieg mit Jüd*innen. Jüdische Menschen und Israelis gleichzusetzen ist prinzipiell falsch*. Vor allem zielen solche Aussagen aber immer darauf ab, jüdische Menschen klein zu halten.

*da Jüd*innen neben z.B. Christ*innen und Muslim*innen nicht die einzige in Israel vertretene religiöse Gruppe sind (Anmerkung der Redaktion).

Für manche ist Religion ein veraltetes Konzept, für andere ein wichtiger Lebensbestandteil. Wie erlebst du das Jüdischsein?

Ich bin in jüdischen Kreisen aufgewachsen und habe viele jüdische Freund*innen: Es ist für mich also immer präsent. Übrigens sind wir nicht nur eine Religion, sondern zugleich auch eine Ethnie, also eine Ethnoreligion: Dass ich jüdisch bin, liegt in meiner DNA.

Die Art und Weise, wie meine Familie, Freund*innen und ich das Jüdischsein ausleben, unterscheidet sich aber stark – und das ist gut so. Ich habe es immer ein wenig als „All you can eat-Buffet“ angesehen: Jede*r nimmt sich, was er*sie möchte, und lebt es aus. Ich begehe zum Beispiel die wichtigsten Feiertage, faste aber an Yom Kippur* nicht und halte auch Sabbat** nicht ein. Gleichzeitig habe ich Freund*innen, die sind da anders: Die sind zum Beispiel zwischen Freitag- und Samstagabend nicht zu erreichen. Weil da Sabbat ist, nutzen sie keine elektrischen Geräte und schalten deshalb auch ihre Handys aus.

In meiner Gemeinde ist das vollkommen normal: Jede*r von uns lebt das Jüdischsein nach seinen*ihren Wünschen aus. Ich glaube, das ist vor allem in der Diaspora verbreitet, also unter denen, die zum Beispiel nach Deutschland ausgewandert sind. In Deutschland sind Jüd*innen im Vergleich zu anderen religiösen Gruppen eine Minderheit: Da versucht man zusammenzuhalten und die Gemeinschaft zu stärken, damit sich jede*r wohlfühlen kann.

*Ruhe- und Fastentag, der meist in den September oder Oktober fällt. Nach jüdischem Kalendersystem am 10. Tag des Monats Tischri. Höchster jüdischer Feiertag.

**Ruhetag, an dem keine Arbeit verrichtet werden soll. Er dauert jeweils vom Sonnenuntergang am Freitag bis zum Sonnenuntergang am folgenden Samstag.

Die meisten jüdischen Gemeinden in Deutschland leben mit extremen Sicherheitsvorkehrungen. Wie fühlt es sich an so aufzuwachsen?

Für mich war das von Anfang an Normalität. Ich war in einem jüdischen Kindergarten: Da waren Sicherheitskameras am Eingang und wir wurden beim Kommen und Gehen durchleuchtet. Damit bin ich aufgewachsen. Nach der Schule war ich oft im jüdischen Jugendzentrum. Das war in einer Synagoge, da ging man die Treppe hoch, klingelte, die Tür wurde aufgemacht und dann wurde man von Sicherheitskräften befragt. Das ist für mich bis heute Alltag.

Wenn wir Feste gefeiert haben, bei denen nicht-jüdische Freund*innen und Bekannte von uns eingeladen waren, zum Beispiel meine Bat Mitzwa und die Bar Mitzwa meiner Brüder, dann habe ich schon gemerkt, dass andere das ungewohnt fanden. Sie waren irritiert, manchmal auch verschreckt. Letztendlich haben sie sich wohl ein wenig wie in einem Hollywoodfilm gefühlt.

*Feier zum Eintritt der Religionsmündigkeit, die Mädchen mit zwölf und Jungen mit dreizehn Jahren erreichen

Antisemitismus fußt zu großen Teilen auf uralten Vorurteilen. Inwiefern bist du im Alltag mit solchen konfrontiert?

Das Gleichsetzen von Israelis und Jüd*innen ist für mich definitiv das schlimmste Vorurteil – und ich bekomme es ziemlich oft zu hören. Was mich aber auch nervt ist, dass viele glauben, über Antisemitismus schon alles im Geschichtsunterricht gelernt zu haben. Viele denken an den Zweiten Weltkrieg und gehen davon aus, dass es mit dem Antisemitismus danach vorbei war – als wären Jüd*innenfeindlichkeit und Nationalsozialist*innen 1945 ausgestorben.

Gleichzeitig ist Wissen über das Judentum kaum verbreitet. Wann Weihnachten, Ostern, Pfingsten und so weiter sind, das wissen alle. Welche jüdischen Feiertage parallel stattfinden, weiß kaum jemand. Worum es da geht, erst recht nicht. Das Lichterfest wird zum Beispiel ständig als „jüdisches Weihnachten“ dargestellt. Es fällt vielleicht in denselben Zeitraum, ist sonst aber ganz anders. Solche Informationen werden behandelt, als seien sie kein Mainstreamwissen, als seien sie einfach nicht interessant genug für die Masse.

Verschwunden war Antisemitismus nie. Hat er sich aber in den letzten Jahren verändert?

Leider ja – und zwar zum Negativen. Antisemitismus war nie weg, aber er hat sich früher weniger gezeigt. Jetzt trauen sich immer mehr Menschen, heftigen Antisemitismus von sich zu geben. Mittlerweile ist er ungefiltert und in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Besonders krass habe ich das nach dem Aufschwung der Alternative für Deutschland (AfD) erlebt. Mir wird oft gesagt, dass ich doch keine Angst haben müsste: Ich sei ja „nur Jüdin“ und die AfD schließlich in erster Linie gegen Geflüchtete. Wer sich mit dem Wahlkampfprogramm der AfD auseinandersetzt, weiß aber, dass das nicht stimmt: Sie wettert gegen alle Minderheiten, eben auch gegen jüdische Menschen.

Ganz katastrophal ist die Lage innerhalb Europas im Moment in Frankreich. Da gibt es eine riesige Welle an jüdischen Menschen, die beschließen nach Israel zu emigrieren, weil sie in ihrem Alltag in Frankreich viel Diskriminierung erleben. Generell haben alle Jüd*innen ein Rückkehrrecht: Sie dürfen also jederzeit nach Israel kommen. Zu wissen, dass da ein Land ist, das bereit ist einen aufzunehmen, macht es natürlich leichter, den Plan auch umzusetzen.

Was muss in Politik und Gesellschaft passieren, um die jetzige Situation zu verbessern?

Wir müssen aufhören, Nazis eine Plattform zu geben und sie zu Talkshows einzuladen. „Diese AfD-Politiker*innen sind doch auch nur ganz normale Menschen“ - das höre ich oft. Das ist ein Satz, den man nur sagen kann, wenn das eigene Leben nicht von ihnen bedroht wird. Anstatt sich dafür einzusetzen, dass Menschen, die rassistisches, antisemitisches oder anderweitig diskriminierendes Gedankengut verbreiten, von der Gesellschaft ausgeschlossen werden, wird aktuell alles dafür getan, sie zu integrieren. Das muss sich ändern: Ich glaube, nur so können wir Antisemitismus wirklich eindämmen.

Und ich würde mir wünschen, dass sich mehr Menschen solidarisch zeigen, einfach indem sie sich offen mit dem Judentum auseinandersetzen – und zwar auch damit, wie es heute und in Deutschland gelebt wird. Wenn ich Instagram-Beiträge von jüdischen Aktivist*innen teile, höre ich auch ganz oft, dass mir nicht-jüdische Menschen dankbar dafür sind, weil sie die Infos sonst nicht bekommen hätten. Empfehlen würde ich die deutsche Instagrammerin @pastel_blues. Im englischsprachigen Raum gibt es außerdem super viele, zum Beispiel das Magazin @hey.alma und den Account @progressivejews. Ich glaube, letztendlich ist es egal, auf welcher Plattform man sich Wissen aneignet – solange man es sich eben aneignet.

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