treffpunkteuropa.de: Guten Tag Herr Castaldi. Sie sind Professor für politische Philosophie und sind seit ihrem 15 Lebensjahr in der Europäischen Föderalistischen Bewegung involviert. Ist das korrekt?
Roberto Castaldi: Hallo und ja. Ich bin Professor an der „eCampus University“, Präsident der Sektion Toskana der Union Europäischer Föderalisten und Direktor des “Center for European and Global Governance”.
Die Abkürzung dafür lautet CesUE, “Centro studi, documentazione e formazione sull’Unione Europea”. Was genau ist das eigentlich?
Es ist ein Spin-Off-Unternehmen der “Sant’Anna School for Advanced Studies” in Pisa. Im Grunde ist es ein Instrument um Projekte umzusetzen, die wir als nützlich für Europa erachten und die einen bedeutsamen politischen Einfluss entfalten können, aber weder im universitären noch im Rahmen der Föderalistischen Bewegung umgesetzt werden können, aus einer Reihe administrativer und politischer Gründe. Wir, die Gründer des CesUE sind drei Akademiker und Föderalisten, die ihre Kompetenzen in den Dienst Europas stellen. Zum Beispiel waren wir als nationale Experten tätig in einem Pilotprojekt, um die Europäische Union in die Lehrpläne des italienischen Bildungssystems aufzunehmen. Wir haben Material vorbereitet um 230.000 Lehrer einzuweisen.
Also im Prinzip lehren Sie Lehrer, Europa zu lehren?
Aktuell gibt es in Italien keinen speziellen Unterricht über Europa, aber es gibt das Lehrfach “Verfassung und Bürgerschaft”. Das Ziel des Projektes ist es einen Übungskurs zu schaffen, für alle Lehrer die Verfassung und Bürgerschaft unterrichten, damit sie die Europäische Union in ihren Lehrstoff einbauen können. Dies geschah mit einer kleinen Gruppe von Lehrern, die vom Bildungsministerium ausgesucht wurden. Im Pilotprojekt arbeiteten wir nur mit 70 Lehrern. Es ging zunächst um das Testen und Validieren des von uns vorbereiteten Übungsprogramms.
Ein anderes Ihrer Projekte ist der “Europäische Bewusstseinstag”. Was ist das?
Der “European Awareness Day” ist ein neues Format um Europa zu kommunizieren. Es wird versucht, Leute emotional anzusprechen und nicht nur rational. Es beinhaltet ein Konzert oder Musical mit dem Titel “Europe: What a Passion! The musical tale of a stormy love-affair”, welches die Geschichte der Europäischen Integration, vom zweiten Weltkrieg bis zur aktuellen Krise, in 12 Schritten erzählt. Es dauert knapp eine Stunde und 20 Minuten. Im Anschluss folgt eine Podiumsdiskussion und eine Publikumsdebatte. In Mailand hatten wir eine Veranstaltung mit 1400 Schülern der Oberstufe. Letztes Jahr hatten wir 1600 Studenten in Florenz an Bord und das ganze wurde von dem nationalen öffentlichen TV-Sender Rai aufgenommen und gesendet. Also es handelt sich um ein gutes Instrument, um die allgemeine Öffentlichkeit mit einer föderalistischen Botschaft zu erreichen. Das Format ist sehr effektiv und wurde mit großartigem Erfolg in Italien, aber auch Polen und Portugal getestet. Wir bereiten für nächstes Jahr Veranstaltungen in Madrid, Paris und Edinburgh vor.
Gibt es auch Planungen für Veranstaltungen in Deutschland?
Noch nicht. Wir versuchen Partner in Deutschland zu finden. Ein Problem des Formats ist, dass es sehr teuer ist, weil wir ein Theater benötigen. Während die Konferenz üblicherweise von föderalistischen Professoren organisiert wird, also gratis, müssen aber die Künstler und Techniker, die man benötigt um das Musical auf die Beine zu stellen, bezahlt werden. Der Europäische Bewusstseinstag ist auch nur ein Teil des “Europäischen Bewusstseinsprojekts”. In seinem Rahmen schaffen wir auch spezielle Online-Kurse für Lehrer, Schüler, Journalisten und die allgemeine Öffentlichkeit in Italienisch, Englisch, Französisch, Spanisch und Portugiesisch. Nicht in Deutsch, weil wir leider über keine deutschen Partner verfügen. Wir wollen auch Länder anvisieren mit wachsendem Euroskeptizismus, wie Österreich, die Niederlande, Ungarn und wir suchen auch dort nach Partnern.
Klingt nach einem interessanten Projekt und hoffentlich wird Ihnen dieses Interview helfen neue Partner zu finden. Lassen Sie uns über Italien reden. Können Sie mir eine Einschätzung geben, wie die aktuelle Stimmung in der italienischen Bevölkerung, im Bezug auf die Europäische Union und Europa ist?
Erst kürzlich wurde ein Bericht veröffentlicht, der den Zuspruch der Bürger zur Europäischen Union in großen Mitgliedsstaaten thematisierte und in Italien war er am niedrigsten. Dies hat sicherlich mit der Tatsache zu tun, dass es Italien schwerer fällt die Krise von 2008 zu verdauen und es immer noch unter einer hohen Arbeitslosigkeit leidet, insbesondere unter den jungen Leuten. Es gibt definitiv eine Verbindung mit der ökonomischen Situation und den Emotionen in Richtung Europa. Die Krise hat die Debatte über Europa in den Medien befeuert. Es existiert in Italien, aber nicht nur in Italien, beinahe überall außer in Deutschland, weitgehend ein Konsens, dass die Austeritätspolitik, die durch die EU durchgesetzt wurde, die falsche ist, im Angesicht der Krise, der wir gegenüberstehen. Und dies hat einen Backlash im Konsens über Europa hervorgerufen und auch ein gewisses Maß an Misstrauen gegenüber Deutschland produziert. Gleichzeitig zeigt die Debatte aber, dass es ein wachsendes Bewusstsein dafür gibt, dass eine andere EU die einzige Chance ist, die wir haben. Wir befinden uns in dieser seltsamen Situation. Manche Umfragen suggerieren, dass das Niveau des Vertrauens gegenüber der EU immer noch höher ist, als gegenüber der Ebene der nationalen und regionalen Governance. Das heißt, wir beobachten ein gesunkenes Vertrauen gegenüber der Politik im Allgemeinen.
Können Sie mir etwas über die aktuelle Situation im Bezug auf die politischen Parteien in Italien erzählen, insbesondere die “Movimento-5-Stelle”? Und was passiert gerade mit dem zersplitterten Mitte-Rechts-Spektrum? Welche Parteien gibt es? Welche Positionen vertreten sie gegenüber Europa?
Alle Parteien, außer den Regierungsparteien, nehmen stark antieuropäische Positionen ein. Die 5-Sterne-Bewegung, die Lega Nord, Fratelli d’Italia und auch Teile der Forza Italia vertreten euroskeptische Haltungen. Manche empfehlen, dass Italien die Europäische Währungsunion verlassen soll. Die Regierungskoalition besteht aus der Mitte-Links Partito Democratico und der Mitte-Rechts Area Popolare, einer Splittergruppe der Forza Italia. Beide sprechen sich weiterhin für Integration aus, trotz Matteo Renzis öffentlichen polemischen Ausfällen gegenüber Jean-Claude Juncker. Ich denke Renzi wollte dem heimischen Publikum zeigen, dass er hart arbeitet, damit Italiens Stimme in Europa gehört wird, damit die Politik mehr auf Wachstum ausgerichtet wird. Aber wenn man sie die Strategiepapiere der italienischen Regierung und der Europäischen Kommission anschaut, dann vertreten beide meist so ziemlich die gleichen Positionen. Wenn Europa nicht in der Lage ist zu liefern, hängt das meist mit den anderen Mitgliedstaaten zusammen und nicht mit der Europäischen Kommission.
Denken Sie die kleine Mitte-Rechts-Partei der Regierung wird im Falle von Neuwahlen den Wiedereinzug ins Parlament schaffen? Oder fällt sie raus?
Area Popolare wird es wahrscheinlich schaffen die Hürde zu nehmen. Das Problem ist, dass nicht nur das Mitte-Rechts-Spektrum zersplittert ist sondern die Forza Italien selbst. Es gibt Leute die Salvini und der antieuropäischen Nordliga folgen wollen. Und andere wollen die Assoziation mit der Europäischen Volkspartei beibehalten. Natürlich wird Antonio Tajani, der bereits für die Kommission gearbeitet hat und Vizepräsident des Parlaments ist, keine antieuropäische Haltung vertreten. Es wird also eine rege Debatte innerhalb der Forza Italia geführt. Sie neigen dazu antieuropäische Standpunkte einzunehmen, weil sie denken, dass sie bei Wahlen dadurch profitieren und sie wollen Stimmen der Lega-Nord-Wähler.
Ich habe gehört Tajani hat Ambitionen neuer Präsident des Europaparlaments zu werden, jetzt da Martin Schulz aufhört. Manche Leute meinen Schulz wäre ein guter Kanzlerkandidat.
Naja, das ist die Entscheidung der SPD. Ich denke es wäre gut für Europa, wenn der frühere Präsident des Europäischen Parlaments als Kanzlerkandidat in Deutschland antritt. Es würde zeigen, dass man einen hohen politischen Status haben kann, auch wenn man aus der Europapolitik kommt, nicht nur aus der nationalen. Selbst wenn er verliert, wäre allein die Tatsache, dass er antrat sehr hilfreich für Europa.
Die PD von Matteo Renzi gehört zur politischen Familie der SPD. Was halten Sie von Renzis Europapolitik?
Als Renzi als Premierminister anfing, war es nicht klar wie seine Europapolitik aussehen würde. Mit der Zeit manifestierte sich Italien unter Renzi als eines der Länder, die sich am stärksten für weitere Europäische Integration einsetzten. Denken Sie nur an den 5-Präsidenten-Bericht. Italien und Spanien haben beide sehr weitgehende Vorschläge zur Fiskalunion, zur europäischen Asylpolitik, gemeinsamer Küstenwache und Außenpolitik gemacht. Gleichzeitig verteidigten sie die Rolle der europäischen Institutionen. Allein die Tatsache, dass der Premier vor dem italienischen Parlament die Arbeit des Europaparlaments gelobt hat, war ein bedeutsames Statement. Ich glaube nicht dass es viele nationale Regierungschefs gibt, die das Europäische Parlament in öffentlichen Reden derart anpreisen. Renzis Problem war, dass er mit Hollande und Merkel konfrontiert war. Das Treffen in Ventotene war ein klarer Versuch, vor dem Bratislava-Gipfel, auf beide Druck aufzubauen für mehr Integration. Ein symbolischerer Ort als Ventotene für ein solches Vorhaben ist schwer vorstellbar.
Sowohl Hollande als auch Renzi waren beide Mitte-Links oder sozialdemokratische Politiker. Wieso gab es keine strategische italienisch-französische Koalition auf europäischer Ebene?
Um eine Koalition zu haben, muss man eine Einigung auf ein gemeinsames Vorgehen haben. Hollande war nicht willens irgendetwas zu machen. Ich glaube, er war der schwächste Präsident, den die fünfte Republik jemals hatte! Sechs Monate nach seiner Wahl beschädigte ihn sein eigener persönlicher Skandal. Und seitdem war er nicht fähig eine wichtige europäische Initiative in Angriff zu nehmen. Hollande war eine Bremse für Europa. Er verhinderte, dass Europa voran kam. Es stimmt, dass der nächste französische Präsident sogar schlimmer werden und versuchen könnte die Integration wieder zurück zu drehen. Wenigstens haben in Deutschland die beiden wichtigsten Parteien eine europäische Grundhaltung, auch wenn dies bis jetzt nicht in politische Initiativen übersetzt wurde, um Europa voran zu bringen.
Schon, aber ist das nicht das eigentliche Problem, dass Politiker des größten und mächtigsten Mitgliedstaats, wenn es um tatsächliches Handeln geht, für Europa eher einen konservativen als einen progressiven Ansatz vertreten? Meiner Meinung nach präsentiert sich Angela Merkel zum Beispiel in der Öffentlichkeit als stark proeuropäisch, aber wenn sie Möglichkeiten hat, tatsächlich zu handeln, wird ihre Rhetorik oft als leeres Gerede entlarvt.
Ich denke das Problem mit Merkel ist, dass sie vor allem für “Abwarten und Beobachten” steht. Sie versucht Zeit zu gewinnen, anstatt die Probleme frontal anzugehen. Und die Krise, der die Europäische Union nun gegenüber steht, erfordert einfach viel mehr Initiative. Die Probleme der Währungsunion sind essenziell. Wir leiden immer noch unter einer Krise, die in den USA begann, aber ihre schlimmsten Auswirkungen in Europa entfaltete. Und der Grund dafür ist, dass wir diese komische Asymmetrie haben, mit einem Binnenmarkt, einer gemeinsamen Währung, aber ohne gemeinsame europäische Wirtschafts- und Fiskalpolitik.
Nächstes Jahr feiern die Römischen Verträge ihr 60stes Jubiläum. Wäre das nicht eine gute Gelegenheit frischen Wind in die Europäische Integration zu bringen?
Wir sind in einer besonderen Situation, in einem Zeitfenster der Möglichkeiten und haben einen tatsächlichen Zeitplan um die Integration voran zu bringen. Das Europäische Parlament arbeitet an drei Positionspapieren zur institutionellen Reform der Europäischen Union. Ich halte es für wichtig, dass diese bald angenommen werden, um die Debatte voran zu treiben und um die Initiative zum 60-jährigen Jubiläum zu ergreifen. Das Parlament sollte die Gelegenheit für eine öffentliche europäische Konsultation und einen Bürgerdialog nutzen. Gleichzeitig wurde während des Bratislava-Treffens ein spezieller Gipfel in Rom vereinbart, mit einem Fahrplan zu einem Neustart der Europäischen Integration. Außerdem gab es die Arbeitsgruppe der EWG-Gründerstaaten, die auch für mehr Integration eintritt. Ich glaube es ist wichtig, dass Föderalisten diese Initiativen unterstützen. Wir werden am 25. März eine europäische Kundgebung in Rom veranstalten. Es ist entscheidend zu zeigen, dass es unter den europäischen Bürgern immer noch ein Bewusstsein existiert, dass Europa die Lösung ist und nicht das Problem. Wenn die Anführer die politische Courage besitzen, werden sie Leute finden, die sie unterstützen und sie werden die Debatte zu Gunsten des Fortschritts gewinnen!
Die Fragen für treffpunkteuropa.de stellte Michael Vogtmann.
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