Wer hat die Wahrheit gestohlen?

Die Verbreitung von Desinformation: eine Herausforderung für das 21. Jahrhundert

, von  Benjamin Robinet, Übersetzt von Jana Stammberger

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Wer hat die Wahrheit gestohlen?

Von Kaiser Augustus’ Verleumdungskampagne gegen Mark Anton im antiken Rom bis hin zur Verteilung von Flugblättern aus der Luft während des Zweiten Weltkriegs - das Verbreiten von Desinformationen zieht sich durch unsere Geschichte. Was uns im 21. Jahrhundert vor neue Herausforderungen stellt, ist das Ausmaß und der breite Zugang zu falschen Informationen. Wer hätte bei der Gründung von Facebook 2004 gedacht, dass diese Plattform nicht nur unsere sozialen Kontakte verändern, sondern sich dort ebenso ein großer Teil unseres privaten und öffentlichen Lebens abspielen würde? Die sozialen Medien haben in gewisser Weise Zeitungen, Reporter und Institutionen aus ihrer Schlüsselposition bei der Nachrichtenverbreitung verdrängt. Ob professioneller Berichterstatter oder nicht - jeder kann ohne vorherigen Faktencheck Informationen verbreiten und damit ein großes Publikum erreichen.

Demokratie auf tönernen Füßen

Gehen wir von einem wichtigen Prinzip aus : Demokratie lebt von öffentlicher Debatte. Vielfalt und Pluralität sind in diesem Konzept unabdingbar. Während jedoch Meinungen unterschiedlich sein können (und sollten), sollte an zugrunde liegenden Fakten nichts verändert werden. Hier lauert die echte Gefahr von Desinformationen.

Durch das Verbreiten falscher oder irreführender Informationen entsteht der Eindruck, dass „traditionelle“ Medien einseitig berichten, was deren Vertrauenswürdigkeit untergräbt. Desinformation zielt darauf ab, Gesellschaften zu polarisieren und schränkt damit eine friedliche demokratische Debatte ein : Einerseits wird es zur Herausforderung, überhaupt eine gemeinsame Ausgangslage zu finden. Andererseits wird es für die Bürger*innen immer schwieriger, sich zu informieren und fundierte Entscheidungen zu treffen.

Regierungen machen gerne externe Akteur*innen für das Verbreiten falscher Informationen verantwortlich, beispielsweise im Zuge von Kampagnen. Doch Fehlinformationen verbreiten sich nur, wenn Nährboden dafür vorhanden ist. Während einzelne Staaten (u.a. Russland, China und der Iran) nachgewiesenermaßen in solche Kampagnen involviert sind, stammen manche Verschwörungstheorien von innerstaatlichen Organisationen. Verschwörungstheorien, die eine bestimmte Form der Desinformation darstellen, bauen auf vier Gefühlen auf : Zuerst ist da ein Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber globalen Herausforderungen wie der Erderwärmung oder einer globalisierten Politik. Zweitens liefern Verschwörungstheorien eine Erklärung für ungewöhnliche Ereignisse und geben damit ein Gefühl von Sicherheit. Drittens helfen sie, mit echten oder vermeintlichen Bedrohungen zurechtzukommen, indem sie das Gefühl vermitteln, vorbereitet zu sein. Im letzten Schritt zerstören Verschwörungstheorien die etablierte Politik, in der sich die Anhänger*innen als (bevorzugt unterdrückte) Minderheit darstellen.

In den USA und Europa haben sich in den vergangenen Jahren Gruppen von Verschwörungstheoretiker*innen gebildet. Eine davon ist "QAnon„, eine Gruppierung, die behauptet, die Welt werde von einer elitären Gruppe pädophiler Kinderhändler*innen (dem sogenannten“Deep State„) regiert, die von einer Gruppe Widerständler*innen (“resistants") bekämpft wird. QAnon begreift sich als globale, aus kooperierenden regionalen Gruppierungen bestehende Online-Community, verbunden durch das Misstrauen gegenüber offiziellen Informationsquellen. Ihre Wurzeln hat die Community in den USA, wo die Anhänger*innen Donald J. Trump für einen der besagten Widerständler halten. Inzwischen hat sich die Theorie auch in Europa verbreitet, wo die Aktivität in verschwörungstheoretischen Gruppen auf Facebook während des Lockdowns zugenommen hat. In Deutschland erreicht QAnon seine Anhänger über Youtube, Facebook und die Nachrichten-App Telegram. Rechtsextreme Bewegungen machen sich die Q-Theorien zu eigen und betten damit ihren nationalistisch-rassistischen Diskurs in den Rahmen eines Kampfes gegen die Eliten der Welt, gegen den „Deep State“.

„Q“ ist eine so dehnbare Verschwörungstheorie, dass sie von manchen Gelbwesten-Protestler*innen in Frankreich, einigen Impfgegner*innen in Italien sowie Brexit-Verfechter*innen im Vereinigten Königreich aufgegriffen wurde. Am 9. November musste der estnische Innenminister Mart Helme zurücktreten, nachdem er behauptet hatte, Joe Biden sei vom Deep State gewählt worden. Eine bekannte Q-Theorie besagt, Bill Gates habe die Corona-Pandemie selbst in Gang gesetzt, um daraus Gewinn zu ziehen und den Menschen im Zuge der Impfungen Mikrochips zu implantieren, mit denen er sie später kontrollieren könne.

„Guten Morgen, hier spricht die Kommission“

Die Europäische Kommission hat bereits lange vor 2020 Maßnahmen gegen die Verbreitung von Desinformationen ergriffen. Nach der russischen Annexion der Krim 2014 bildete die Kommission 2015 eine spezielle Taskforce zur Bekämpfung russischer Desinformationskampagnen, die East StratCom Task Force des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EEAS). Da Desinformation als Kriegsstrategie wahrgenommen wurde, führte Brüssel 2016 den Gemeinsamen Rahmen für die Abwehr hybrider Bedrohungen ein.

2019 führte die EU eine Reihe neuer Maßnahmen ein, um die Integrität der Europawahlen 2019 zu gewährleisten. Im April 2018 veröffentlichte die Kommission ihre Mitteilung „Bekämpfung von Desinformation im Internet : ein europäisches Konzept“ und stellte im Anschluss mit dem "Verhaltenskodex zur Bekämpfung von Desinformation" einen Handlungsrahmen für den Privatsektor vor. Facebook, Twitter, Mozilla und Google nahmen als Erste daran teil. 2019 kam Microsoft hinzu, und im Juni 2020 unterzeichnete auch TikTok den Kodex. Damit verpflichteten sich die Unternehmen, für bestimmte Konten, über die Desinformationen verbreitet wurden, Werbeeinnahmen zu unterbinden. Außerdem stimmten sie zu, politische Werbung transparenter zu machen, sich mit Fake-Accounts und Online-Bots auseinander zu setzen, Kund*innen die Möglichkeit zu geben, Desinformation zu melden, den Zugang zu geprüften Inhalten zu erleichtern und schließlich die Wissensgemeinschaft in der Informationskontrolle zu stärken. Diese Maßnahmen führten dazu, dass manche der Gruppen von den sozialen Medien auf Nachrichtendienste wie WhatsApp und Telegram umstiegen, die Verschlüsselungstechnologien verwenden, um die privaten Daten ihrer Nutzer zu schützen.

Erst im Dezember 2018 stellte die Kommission einen umfassenderen "Aktionsplan gegen Desinformation" vor, in der sie versuchte, eine Brücke zwischen der Regulierung von Inhalten und der freien Meinungsäußerung zu schlagen. An dieser Stelle wurden erstmals Fragen der Sicherheit und der Bürgerrechte in die Diskussion aufgenommen. Der Aktionsplan baut auf vier Säulen auf : 1) Verbesserung der Erkennung, Untersuchung und Aufdeckung von Desinformation durch die EU, 2) Engere Zusammenarbeit und gemeinsame Abwehrmaßnahmen gegen Desinformation, 3) Mobilisierung des Privatsektors bei der Bekämpfung von Desinformation, 4) Sensibilisierung der Gesellschaft und Ausbau ihrer Widerstandsfähigkeit, aufbauend auf dem Grundsatz, dass sich Desinformation unterschiedlich auf Gesellschaften auswirkt, je nach Bildungsniveau, demokratischer Kultur, Vertrauen in die staatlichen Einrichtungen, Aufbau des Wahlsystems, die Rolle der Finanzen in politischen Prozessen sowie soziale und wirtschaftliche Ungleichheit. Der Aktionsplan hebt außerdem die Förderung von Qualitätsjournalismus als wichtige Maßnahme hervor.

Wie bei allen politischen Strategien wird auch in der Desinformationsbekämpfung das Jahr 2020 einen Wendepunkt darstellen. In Anbetracht der steigenden Informationsflut, des rasanten Anstiegs an Betrügereien, Hassreden, Verbraucher*innentäuschung und irreführenden Inhalten, sowie der wachsenden Unsicherheit über einen zuvor völlig unbekannten Virus, hatte die Kommission keine andere Wahl als alle verfügbaren Mittel auszuschöpfen. Sie hat internationale Kooperationen ausgebaut (besonders durch das im März 2019 eingerichtete Schnellwarnsystem), Online-Plattformen in die Verantwortung genommen und Faktenprüfer*innen gestärkt.

Desinformation - nur ein Symptom ?

Bisher hat die Kommission eine eher repressive Haltung gezeigt und versucht, falsche Informationen im Netz zu reduzieren. Doch wie weit kommt sie damit, ohne das europäische Grundprinzip der Meinungsfreiheit zu beschneiden ? Was, wenn dieser Ansatz nur die Symptome, nicht aber deren Ursache lindert ? Was, wenn die Anfälligkeit für Verschwörungstheorien nur das Symptom einer viel ernsteren Krankheit ist ? Wie der Aktionsplan gegen Desinformation bereits klarstellt, ist die Anfälligkeit für Desinformation nur so stark wie das Unsicherheitsgefühl in der Gesellschaft.

Im September 2020 führte die Kommission eine öffentliche Konsultation durch, die in den Entwurf eines Aktionsplanes für Demokratie einfließen sollte. Die Kommission setzte sich in diesem Plan vier Ziele : 1) die Gewährleistung der Integrität des Wahlprozesses sowie freier und fairer Wahlsysteme, 2) die Stärkung der Medienfreiheit und des Medienpluralismus, insbesondere durch mehr Schutz für Journalist*innen, deren Rechte und deren Arbeitsbedingungen, 3) die nachhaltige Bekämpfung von Desinformation, und 4) die Förderung der Zivilgesellschaft in den Bereichen Faktenprüfung und Medienkompetenz.

Was, wenn man bei der Bekämpfung der Auswirkungen von Desinformation gar nicht bei der Desinformation selbst ansetzen muss ? Was, wenn der eigentliche Ansatz zur Bekämpfung darin liegt, eine öffentliche Debatte und sozialen Zusammenhalt herzustellen, Ungleichheiten in der Welt zu reduzieren und jedem einzelnen Menschen die Möglichkeit zu geben, seinen Traum zu verfolgen und sein Potential zu verwirklichen ?

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