Einsamkeit ist wie eine heimliche Pandemie, sagt der Ministerpräsident von Nordrheinwestfalen, Hendrik Wüst. Ein Massenphänomen unter jungen Menschen, über das allerdings lange geschwiegen wurde. Denn fast jeder fünfte Jugendliche oder junge Erwachsene fühlt sich stark einsam. Bis zu 80 Prozent der jungen Befragten in NRW fühlen sich moderat einsam. Das ergab eine im November 2023 veröffentlichte Studie der Universitätsallianz Ruhr. Grund für die gestiegene Einsamkeit unter jüngeren Menschen sei vermutlich die Corona-Pandemie, so die Autor*innen, denn gerade Jugendliche und junge Erwachsene mussten sich aufgrund der Lockdowns einschränken.
Doch nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa hat sich das Gefühl von Einsamkeit verstärkt. Waren es laut Umfragen im Jahr 2016 noch 12 Prozent der EU-Bürger*innen, die sich mehr als die Hälfte der Zeit einsam fühlten, so sind es im ersten Monat nach Ausbruch der Pandemie 25 Prozent gewesen – also jede*r Vierte. Allerdings ist nach der Aufhebung der Corona-Maßnahmen das Gefühl von Einsamkeit nicht einfach wieder verschwunden.
Die Pandemie ist also nicht der einzige Grund dafür, dass sich immer mehr Menschen einsam fühlen. So können auch Faktoren wie Gesundheit, Wohnort oder der sozioökonomische Status die soziale Isolation und wahrgenommene Einsamkeit einer Person beeinflussen. Familien oder Haushalte mit geringem verfügbarem Einkommen haben oft weniger gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten. Kinder und Jugendliche können dann beispielsweise nicht in Sportvereinen eintreten oder Hobbies nachgehen, wenn das nötige Geld fehlt.
Wann ist man einsam?
Ist man allein, muss man nicht gleich einsam sein. Denn Einsamkeit bedeutet, dass sich die eigenen sozialen Beziehungen in ihrer Qualität und Quantität unzureichend anfühlen. Die Wahrnehmung von Einsamkeit ist jedoch sehr individuell. So kann sich ein Mensch mit vielen sozialen Kontakten einsam fühlen, ein Mensch mit nur sehr wenigen, aber dafür engen Freundschaften, nicht unbedingt. Dabei unterscheidet man zwischen emotionaler und sozialer Einsamkeit. Erstere beschreibt den Mangel an besonders engen Freundschaften und Beziehungen. Soziale Einsamkeit meint dagegen die fehlende Zugehörigkeit zu einer sozialen Gemeinschaft oder Gruppe.
Einsamkeit macht krank
Wie wichtig der Kampf gegen Einsamkeit ist verdeutlichen die körperlichen und mentalen Folgen, die damit einhergehen können. Denn langanhaltende Einsamkeit kann sich ähnlich negativ auf den Körper auswirken wie übermäßiger Alkoholkonsum, ungesunde Ernährung oder zu wenig Bewegung. Einer US-amerikanischen Studie zufolge kann Einsamkeit genauso schädlich sein wie das Rauchen von 15 Zigaretten am Tag. Auch erhöht chronische Einsamkeit das Risiko für Schlaganfälle, Herz-Kreislauf-Probleme, Krebs oder Demenz.
Insgesamt haben einsame Menschen oft ein erhöhtes Stresslevel und Schlafprobleme. Das wirkt sich auch auf die Psyche aus. So kann ein häufiges und anhaltendes Gefühl von Einsamkeit zu psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder sozialer Angst beitragen.
Soziale Isolation als Gefahr für die Demokratie
Seit einigen Jahren gewinnt das Thema Einsamkeit zunehmend an Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und Politik. Bundesfamilienministerin Lisa Paus spricht von einer Herausforderung für die gesamte Gesellschaft und möchte mit einer Strategie gegen Einsamkeit die soziale Verbundenheit in Deutschland stärken. Bislang beschränken sich die Maßnahmen in Deutschland jedoch überwiegend auf Aktionstage und punktuelle Maßnahmen. In Großbritannien gibt es dagegen schon seit 2018 ein Ministerium für Einsamkeit.
Denn erreicht man einsame Menschen nicht mehr, ziehen sie sich immer weiter zurück. Mit der Zeit kann sich das negativ auf das Vertrauen in Gesellschaft und Staat auswirken und gefährdet unter Umständen sogar die Demokratie. Einer Studie des Progressiven Zentrums zufolge sind einsame Jugendliche empfänglicher für extremes Gedankengut und Verschwörungstheorien. So stimmen fast die Hälfte der Befragten 16- bis 23-jährigen, die sich einsame fühlen, verschwörungsideologischen Behauptungen zu. Gleichzeitig zeigen einsame Jugendliche eine höhere Akzeptanz für politische Gewalt. Somit bestehe ein Zusammenhang zwischen Einsamkeit und antidemokratischen Haltungen. Die Autor*innen der Studie warnen daher vor der Gefahr, die diese Menschen für die Demokratie bedeuten könnten.
Auch wenn das Gefühl von Einsamkeit individuell auftritt, ist Einsamkeit ein strukturelles Problem. Denn wir leben in einer stark individualisierten Gesellschaft. Einsamkeit vollständig zu beseitigen, scheint daher unmöglich. Doch wird das Thema entstigmatisiert und normalisiert, kann es für Betroffene leichter werden Hilfsangebote wahrzunehmen. Gerade Risikogruppen wie Haushalte mit geringem Einkommen oder junge Menschen sollten dabei im Fokus stehen, so die Autor*innen der Studie zu Einsamkeit in NRW. Laut Ministerpräsident Wüst sei Einsamkeit die neue soziale Frage unserer Zeit und ein Thema, dem sich die Politik annehmen muss. „Wir müssen das Thema Einsamkeit aus der Tabuzone holen und unsere Jugendlichen dort ansprechen, wo sie ohnehin bereits sind: in der Schule und online.“
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