Koloniale Vergangenheit und niederländische Identität

„Wir sind hier, weil ihr da wart.”

, von  Julia Fischer

„Wir sind hier, weil ihr da wart.”
Das „Goldene Zeitalter" war auch eine Blütezeit der Kunst. Für viele Menschen war es aber alles andere als golden. Foto: Unsplash / Václav Pluhař / Unsplash License

„Die grundlegenden nationalen Mythen der Niederlande befinden sich im Goldenen Zeitalter“, sagt Gert Oostindie, Professor in Leiden, über das 17. Jahrhundert. Vier Jahrhunderte später steht der Begriff des „Goldenen Zeitalters“ massiv in der Kritik. Wir haben mit ihm gesprochen.

Das „Goldene Zeitalter“ bezeichnet das 17. Jahrhundert, in denen die Niederlande einerseits zu einer Weltmacht aufstiegen und auf der ganzen Welt niederländische Kolonien etablierten. Andererseits wird damit eine Blütezeit in der niederländischen Kultur- und Kunstszene beschrieben. Losgelöst wurde die Debatte durch die Entscheidung des Amsterdam Museums, den Begriff nicht mehr nutzen zu wollen. Ist die Nutzung des Begriffs noch zeitgemäß?

Geforscht hat Gert Oostindie insbesondere im Bereich der Dekolonialisierung der karibischen Gebiete der Niederlande, aber auch zu Themen wie dem Atlantischen Sklav*innenhandel und seinen Vermächtnissen, postkolonialer Migration, den letzten niederländischen Kolonialkrieg in Indonesien zwischen 1945 und 1949 und der Bedeutung der kolonialen Vergangenheit für die niederländische Identität. Er hat schon mehrfach mit Museen daran gearbeitet, historische Ausstellungen zeitgemäß zu präsentieren und die koloniale Vergangenheit des Landes einzubeziehen.

treffpunkteuropa.de: Wie erleben Sie den gegenwärtigen niederländischen Diskurs über den Ausdruck des „Goldenen Zeitalters“?

Gert Oostindie: Der Diskurs ist Teil einer größeren Debatte in der niederländischen Gesellschaft über die Kolonialgeschichte und ihre Hinterlassenschaften. Zuvor klang unsere Geschichte ein wenig so, als ob die Niederländer*innen drei Jahrhunderte lang ein Kolonialreich gewesen wären und das nach der Unabhängigkeit der Kolonien keine Rolle mehr gespielt hätte. In gewisser Weise wurde jetzt wiederentdeckt, dass die Kolonialgeschichte Teil der nationalen Geschichte ist - vor allem weil in den Niederlanden über eine Million Menschen wohnen, deren Vorfahren aus ehemaligen Kolonien kamen, die immer gesagt haben, „Wir sind hier, weil ihr da wart.“ Die Debatte darüber, ob der Begriff des „Goldenen Zeitalters“ genutzt werden soll, ist daher sehr ausgeprägt. Wie auch immer das Ergebnis aussehen mag, es ist wichtig, dass die Menschen darüber nachdenken – und ich glaube, dass das gerade passiert.

Wer sind die Hauptakteur*innen in diesem Diskurs?

Es ist eine breite Öffentlichkeit. Sie ist nicht so groß wie die der „Zwarte Piet“-Diskussion. (Anmerkung der Redaktion: Der „Zwarte Piet“ ist der Helfer des Nikolauses, der die Geschenke an die Kinder verteilt. In den Niederlanden wird darüber gestritten, ob diese Figur noch zeitgemäß ist oder Rollenklischees aus der kolonialen Periode weiterleben lässt). Aber sie passt sehr gut in dieselbe Kategorie des Nachdenkens über die Vergangenheit. Als das Amsterdam Museum sagte, dass es den Ausdruck des „Goldenen Zeitalters“ nicht mehr verwenden werde, gab es einen kurzen Aufruhr und erste Reaktionen. Die wurden zwar weniger, aber sie sind zu einem Teil der Selbstreflektion geworden für diejenigen, die in Museen verantwortlich und aktiv sind.

Ist es das erste Mal, dass über das „Goldene Zeitalter“ diskutiert wird?

In den vergangenen Jahrzehnten gab es immer wieder Kritik an allem, was den Kolonialismus verherrlicht hat. Worte sind wichtig, ebenso Begriffe. Ich denke, als Nation sind wir stolz auf Rembrandt und viele Dinge, die wir zum Goldenen Zeitalter zählen. Aber es ist auch heuchlerisch zu sagen, dass diese Dinge unsere Geschichte sind, aber unsere Beteiligung am atlantischen Sklavenhandel nicht dazu zählt. Der Begriff des „Goldenen Zeitalters“ stammt aus der Kunstgeschichte - und es ist gar nicht so merkwürdig, dass das Jahrhundert in der Kunstgeschichte wegen der erstaunlichen Kunstwerke, die in dieser Epoche geschaffen wurden, so bezeichnet wird. Aber es hat immer Kritiker*innen gegeben, zum Beispiel Gruppen von Aktivist*innen, die seit langem gesagt haben, dass wir das 17. Jahrhundert ein düsteres Jahrhundert nennen sollten.

Können Sie abschätzen, welchen Wert der Begriff „Goldenes Zeitalter“ für die Niederländer*innen und ihr Verständnis einer nationalen Identität hat?

Es stellt sich immer die Frage, was die Menschen wirklich über Geschichte wissen. Es besteht kein Zweifel daran, dass dieses „Goldene Zeitalter“ die Zeit war, in der die Niederlande eine Nation wurden. Die grundlegenden nationalen Mythen dieses Landes befinden sich in diesem Goldenen Zeitalter. Das ist die Zeit, in der wir die Spanier*innen hinausgeworfen haben und sogar für kurze Zeit zum Zentrum der westlichen Welt wurden. Ein so kleines Land und dann plötzlich in vielerlei Hinsicht so wichtig - es gibt viele, die es im Sinne einer intellektuellen, künstlerischen Epoche betrachten. Die Niederlande waren mit einem Mal einer der reichsten Orte Nordwesteuropas. Aber ich denke, dass viele Menschen, die den Begriff des „Goldenen Zeitalters“ weiterhin verwenden, nicht ignorieren oder leugnen würden, dass es gleichzeitig eine Zeit war, in der die Niederländer*innen eine koloniale Macht und deswegen eine repressive Nation wurden, die Menschen versklavte.

Wie würden Sie die Entscheidung des Amsterdamer Museums, den Begriff „Goldenes Zeitalter“ nicht länger nutzen zu wollen, in einen größeren Zusammenhang stellen?

Der Kontext ist das allgemeine Unbehagen darüber, wie wir mit der Tatsache umgehen sollen, dass wir Jahrhunderte lang eine Kolonialmacht waren. Ich habe immer gesagt, dass die niederländische Gesellschaft, aber vor allem auch die niederländische Politik, es versäumt hat, diese Epoche kritisch zu betrachten. Ich nehme ein Beispiel aus der deutschen Vergangenheitsbewältigung: Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass sie auch problematisch ist, dass in Deutschland, vielleicht gerade in Ostdeutschland, die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit unvollständig ist und dass es in Deutschland Fremdenfeindlichkeit gibt. Dennoch hat es eine konsequente Anstrengung der Vergangenheitsbewältigung gegeben, die ich so wichtig finde.

Ich erinnere mich - und das ist zwanzig Jahre her - dass ich auf einer von Friso Wielenga organisierten Konferenz in Münster war, auf der es um die niederländische Kolonialvergangenheit und den Umgang der Niederländer*innen mit ihr ging. Die niederländische Regierung hatte beschlossen, dass es ein Denkmal geben sollte, das die Sklaverei dokumentiert, und der Geist der Konferenz war, dass die Niederländer*innen hier ein gutes Beispiel waren. Ich sagte damals, nun, ich denke, dass die Deutschen in ihrer Vergangenheitsbewältigung ein sehr gutes Beispiel sind. Auch heute haben wir noch einen wirklich langen Weg vor uns - und wir sind noch mittendrin.

Andere Museen kritisierten, dass eine bloße Änderung des Begriffs die dunklen Seiten der Kolonialherrschaft nicht ändern kann. Vielmehr bedarf es einer kritischen Auseinandersetzung mit der Zeit und dem Konzept. Wie würden Sie sich dazu positionieren?

Natürlich kann die Vergangenheit nicht ungeschehen gemacht werden. Die Vergangenheit ist, was sie ist. Was wir tun können ist unser Denken darüber weiterzuentwickeln - und das nenne ich kritische Reflexivität. In diesem Sinne ist das Ändern von Worten Teil eines größeren Prozesses. Ich war an mehreren Diskussionen beteiligt, zum Beispiel mit Museen, die jetzt eine neue Art der Präsentation entwickeln, an der sich auch Einwanderer*innen und Gruppen viel stärker beteiligen, deren Vorfahren aus ehemaligen Kolonien stammen. Das ist der Weg, den wir gehen müssen.

Glauben Sie, dass Sie die Bedeutung des Wortes ändern oder erweitern könnten, sodass der Begriff „Goldenes Zeitalter“ nicht mehr ausschließlich positiv ist, sondern beide Seiten einbezieht?

Das ist das Paradoxon. Man kann den Menschen begreiflich machen, dass das, was wir so lange als „Goldenes Zeitalter“ bezeichnet haben, auch eine Zeit unfassbar negativer Dinge war. Der Satz „Das goldene Zeitalter war nicht nur Gold“ ist wahr – nur daraus folgt die Frage, warum der Begriff dann überhaupt verwendet werden sollte.

Aber andererseits gab es in dieser Zeit alle möglichen Elemente, die tatsächlich Gold waren, insbesondere in der Kunstgeschichte. Es ist eine Frage der Wahl. Ich habe nichts dagegen, dass man sich diese Epoche betrachtet und die Entwicklungen des Wahlsystems, der Philosophie, der Naturwissenschaften, der hohen Bildungsrate in den Niederlanden sieht. Dieser niederländische Erfolg war wirklich eine erstaunliche Periode in der europäischen Geschichte. Die Niederlande waren eine so lebendige Gesellschaft, eben weil es so viel Einwanderung gab: jüdische Einwanderung, Einwanderung aus Deutschland und aus vielen anderen Orten. Diese Einwanderer*innen haben das Goldene Zeitalter miterschaffen – auch das muss gezeigt werden.

Beobachten Sie einen ähnlichen Diskurs in anderen europäischen Staaten?

Ich sehe viele Parallelen zwischen Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden. Vor allem wenn es um die Debatte über Sklaverei geht - dies ist dadurch zu erklären, dass es in allen drei Ländern kritische und aktive karibische Gemeinschaften gibt. In Spanien und Portugal, die eine noch längere koloniale Vergangenheit haben, wird die Debatte darüber weit weniger geführt. In meinem Buch „Postkoloniale Niederlande“, aber auch in zahlreichen Artikeln habe ich argumentiert, dass es zwei wichtige Gründe dafür gibt: Der eine ist, dass es in diesen Ländern keine wesentlichen postkolonialen Migrant*innengruppen gibt, die die Sklaverei anprangern und dass sie politisch nicht sehr aktiv sind. Aber der zweite Punkt ist, dass dieser Länder in der jüngsten Geschichte andere Streitpunkte hatten - wie die Franco-Diktatur in Spanien und die Salazar Diktatur plus blutige Kolonialkriege im von Portugal kolonialisierten Teil Afrikas, folglich die Unterdrückung des eigenen Volkes im 20. Jahrhunderts. Es ist genau wie in Deutschland nicht ganz überraschend, dass es eine ganze Weile gedauert hat, bis die koloniale Vergangenheit Deutschlands wiederentdeckt wurde. So etwas kostet viel Energie - und so viel Energie ging schon in die Verarbeitung des Zweiten Weltkriegs in Deutschland.

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