Die Geschichten, die mein Großvater mir vom Zweiten Weltkrieg erzählte, bewegen mich bis heute. Er war gerade einmal 18 Jahre alt, als er zur deutschen Wehrmacht eingezogen wurde. Nach verschiedenen Stationen und Einsätzen geriet er in französische Kriegsgefangenschaft. Heute, rund 80 Jahre später, bin auch ich in Frankreich - jedoch freiwillig. Ich lebe nun bald seit zwei Jahren in Paris und habe zusätzlich ein Erasmus-Semester in Aix-en-Provence absolviert. Während der Semesterferien arbeite ich als Reiseleiterin in den französischen Alpen und bringe deutschen Tourist*innen ihr Nachbarland näher. Ich zähle Französinnen und Franzosen zu meinen engsten Freunden, studiere gemeinsam mit ihnen und Studierenden aus aller Welt „European Affairs“ und engagiere mich bei den Jeunes Européens, weil ich an ein geeintes Europa glaube. Frankreich ist nicht nur zu einem meiner Lieblingsländer geworden. Neben Deutschland bedeutet es für mich auch Heimat.
Doch wie konnte das geschehen? Wie kann sich die Wahrnehmung eines Landes innerhalb von nur wenigen Generationen so drastisch verändern? Wie konnten aus ehemaligen „Erbfeinden“ Freunde werden?
Letztlich ist es vermutlich dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle und seinem deutschen Amtskollegen Bundeskanzler Konrad Adenauer zu verdanken, dass ein Geschichtsabschnitt, geprägt von drei verlustreichen Kriegen, endlich zu Ende ging. Mit der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags am 22. Januar 1963 legten sie den Grundstein für ein vereintes und friedliches Europa. Besiegelt durch einen Kuss, entstand das „couple franco-allemand“. Der Élysée-Vertrag symbolisiert schwarz auf weiß den Willen, die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Er ebnete den Weg für Solidarität, wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie den politischen und kulturellen Austausch zwischen den Menschen zu beiden Seiten des Rheins.
Wieder und wieder wurden die deutsch-französischen Beziehungen auf die Probe gestellt. Denn auch wenn die politischen Kontakte zwischen keinen zwei anderen europäischen Staaten so intensiv und die wirtschaftlichen Verflechtungen so tiefgreifend sind, so unterscheiden sich Deutschland und Frankreich doch in mancherlei Hinsicht. Nicht nur die Strukturen und Funktionsweisen sind verschieden, sondern auch die Mentalität. Während viele Französinnen und Franzosen dazu neigen, die deutsch-französische Freundschaft zu romantisieren, sehen die Deutschen diese oftmals etwas nüchterner. Dies zeigt sich schon bei der Wahl der Begriffe „couple“ und „Motor“ beziehungsweise „Tandem“. Trotz alledem haben Deutschland und Frankreich mit Mut, Engagement und viel gegenseitigem Verständnis gemeinsam Herausforderungen gemeistert und Differenzen überwunden.
Und so feiern wir heute - im Jahr 2023 - 60 Jahre deutsch-französische Freundschaft. Voller Stolz können wir auf sechs Jahrzehnte zurückblicken, in denen die europäische Integration erfolgreich vorangetrieben und Werte wie Demokratie, Freiheit und Frieden gefördert wurden und in denen vor allem aus zwei ehemals verfeindeten Gegnern gute Freunde und verlässliche Partner geworden sind.
Doch die Liste der Herausforderungen, denen Deutschland und Frankreich gegenüberstehen, ist lang: der russische Invasionskrieg gegen die Ukraine, die Energiekrise, Anti-Semitismus, Extremismus und nicht zuletzt der Klimawandel. Gerade in Krisenzeiten kommt es darauf an, dass Deutschland und Frankreich - gemeinsam mit ihren europäischen Partnern - Europa zusammenhalten. Auf dem Deutsch-Französischen Ministerrat im Januar 2023 haben Bundeskanzler Olaf Scholz und Präsident Emmanuel Macron deutlich gemacht, dass beide Länder auch in Zukunft dieser besonderen Verantwortung gerecht werden wollen.
Die Politik allein wird jedoch nicht alle Probleme lösen können. Herzstück der deutsch-französischen Beziehungen ist und bleibt der gesellschaftliche Dialog zwischen den Menschen zu beiden Seiten des Rheins. Es liegt nun auch an unserer Generation, sich mit Zuversicht und Mut für diese ganz besondere Freundschaft und den Frieden in Europa einzusetzen. Die heute als selbstverständlich empfundene Freundschaft und Zusammenarbeit ist kein „Selbstläufer", sie muss vielmehr immer wieder von Generation zu Generation aufs Neue gefördert werden und es ist unsere gemeinsame Verantwortung, dass sich die unrühmlichen Geschehnisse der Vergangenheit nie wieder wiederholen.
Mein Großvater ist vor drei Jahren verstorben. Dass ich für meinen Master nach Paris ziehen würde, konnte ich ihm leider nicht mehr erzählen. Doch ich bin mir sicher, dass er sehr stolz und glücklich wäre, wenn er mich heute sehen könnte - als junge Studentin in dem Land, in dem er einst in Kriegsgefangenschaft war.
Deutschland und Frankreich - unsere Beziehung ist nicht perfekt. Manchmal verstehen wir uns besser, manchmal schlechter. Manchmal schnurrt der Motor und manchmal stottert er. Wie in jeder guten Freundschaft gibt es Differenzen und Meinungsverschiedenheiten, doch wenn es darauf ankommt, dann können wir uns aufeinander verlassen.
Deutschland und Frankreich - das sind ziemlich beste Freunde.
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