Zugehörigkeit ohne Glaube

Kulturreligion im säkularen Schweden

, von  Sophie Sievert-Kloster, Übersetzt von Jana Stammberger

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Zugehörigkeit ohne Glaube

Weniger als ein Viertel der schwedischen Bevölkerung glaubt an Gott, doch fast zwei Drittel sind Mitglieder der evangelisch-lutherischen Kirche von Schweden. Dieses Paradoxon, so Sophie Sievert-Kloster, hat weniger mit Religion im traditionellen Sinne des Wortes zu tun als vielmehr mit kulturellem Gedächtnis.

Uppsala, Schweden, 2018. Es war eine kühle Oktobernacht. Sie schien voller Möglichkeiten und gleichzeitig mit dem Wissen verbunden, dass der wahre Winter erst noch kommen würde. Ich fuhr von einem Konzert an der Universität nach Hause, als ich plötzlich einen grünen Leuchtstreifen sah. Er huschte über den dunklen Himmel und schwebte dann über dem Dom zu Uppsala. Überall um mich herum blieben die Leute stehen, um den Anblick in kollektiver Stille zu bestaunen. Es war ein fast spiritueller Moment, auf den ich oft zurückkomme, wenn ich an Religion in Schweden denke. Ich denke nicht an fromme Kirchgänger*innen, die die Kirchenbänke für die Sonntagsmesse füllen, sondern an diesen Moment - diese gemeinsame Wertschätzung von Schönheit, Natur, Geschichte und Gemeinschaft.

Der 1435 geweihte Dom St. Erik in Uppsala ist das höchste Kirchengebäude Skandinaviens und die Krönungsstätte der meisten schwedischen Könige. In der Stadt Uppsala befindet sich auch die Erzdiözese der Schwedischen Kirche, einer evangelisch-lutherischen Kirche mit etwa 5,8 Millionen Mitgliedern. Bei einer schwedischen Bevölkerung von etwas mehr als 10 Millionen ist dies eine beachtliche Zahl.

Man könnte Schweden nun für ein ziemlich religiöses Land halten, wenn 57% der Bevölkerung der Schwedischen Kirche angehören. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Laut einem Eurobarometer-Bericht aus dem Jahr 2010 glauben nur 18% der Schwed*innen, dass es einen Gott gibt - von allen EU-Mitgliedstaaten gaben nur Estland und die Tschechische Republik ein geringeres Maß an Glauben an. Wenn es um Kirchenbesuche geht, sind die Zahlen sogar noch niedriger: Nur 3,8% der Bevölkerung besuchen wöchentlich Gottesdienste.

Dies wirft die Frage auf: Wenn nur so wenige Schwed*innen an Gott glauben und regelmäßig zur Kirche gehen, warum hat die schwedische Kirche dennoch so viele Mitglieder? Ein Grund dafür ist, dass man in Schweden bis 1996 bei der Geburt automatisch Mitglied wurde. Heutzutage müssen sich die Menschen aktiv für einen Beitritt entscheiden, aber diejenigen, die vor 1996 geboren wurden, müssen sich bewusst dafür entscheiden, auszutreten. Viele Schwed*innen verlassen die Kirche auch aus finanziellen Gründen. Im Vorfeld der offiziellen Trennung der Kirche vom Staat im Jahr 2000 wurden Steuerformulare veröffentlicht, aus denen erstmals die Höhe der Abgaben hervorgeht, die in Schweden an die Kirche gezahlt werden (ungefähr 1,2% des steuerpflichtigen Einkommens). Diese Erkenntnis veranlasste einen erheblichen Teil der Mitglieder dazu, aus der Kirche auszutreten. Dies erklärt jedoch immer noch nicht ganz, warum fast zwei Drittel der schwedischen Bevölkerung zwanzig Jahre nach der offiziellen Säkularisierung des Landes immer noch der schwedischen Kirche angehören. Es erklärt auch nicht, warum fast die Hälfte aller schwedischen Neugeborenen in der Kirche getauft werden oder warum drei von vier Beerdigungen in der Kirche stattfinden.

Interessanterweise ist der Einfluss des Lutheranismus auf die schwedische Gesellschaft immer noch sehr offensichtlich, obwohl die meisten Schwed*innen ihr Land als eine Art Aushängeschild des Säkularismus betrachten. Viele schwedische Kinder nehmen an „Konfirmationslagern“ teil, von denen jedoch die meisten behaupten, dass es sich nur um normale Sommerlager handele. Während schwedische öffentliche Schulen konfessionsneutral sein müssen, suchen Schulkinder doch üblicherweise nach Ostereiern und hängen Weihnachtssterne an den Fenstern ihrer Klassenzimmer auf. Am Lucia-Fest (13. Dezember) versammeln sich Schwed*innen im ganzen Land, um religiöse Hymnen zu singen und Kerzenkränze auf ihren Köpfen zu tragen, um an das Licht Christi zu erinnern. Die Frage ist also: Praktizieren sie dann Religion oder sind diese Aktivitäten bloße Inszenierungen nichtreligiöser kultureller Praktiken?

Der amerikanische Soziologe Nicholas Demerath verwendet die Idee der „kulturellen Religion“, um diese Wertschätzung von Ritualen und Traditionen in Schweden zu erklären. Laut ihm sind die Schwed*innen ein zunehmend säkulares Volk, das sich vom Glauben löst, während allerdings eine nostalgische Vorliebe dafür bestehen bleibt und man kollektiv an einem „entfernten gemeinsamen Gedächtnis“ festhält. Aber was bedeutet es für den schwedischen Säkularismus, wenn dieses „entfernte gemeinsame Gedächtnis“ nicht von allen geteilt wird?

In den letzten Jahrzehnten haben Globalisierung und Einwanderung Schweden in einen Schmelztiegel verschiedener Ethnien und Religionen verwandelt. Während die Mitgliederzahl der schwedischen Kirche abnimmt, hat in den letzten Jahren die Mitgliederzahl anderer Kirchen und Religionen zugenommen [1]. Nichtchristliche Einwanderer, die nach Schweden kommen, stoßen daher auf einen Widerspruch: Schweden ist einerseits eine sehr säkulare Gesellschaft, hat aber andererseits auch ein starkes lutherisches Erbe, was durch die mehr als 3.500 Gebäude der schwedischen Kirche im ganzen Land symbolisiert wird. Während der weltliche Charakter und die religiöse Neutralität des Staates religiösen Minderheiten Raum für die Ausübung ihrer Religionen bieten, basiert ein Großteil der schwedischen Gesellschaft und Politik immer noch auf bestimmten christlichen Vorstellungen davon, was Religion sein sollte.

Dies wurde kürzlich von der rechtsextremen, ethnonationalistischen Partei der Schwedendemokraten (SD) auf die Spitze getrieben, die das Christentum als grundlegend für die schwedische Kultur hervorhob und die schwedische Kirche dafür kritisierte, dass sie mit dem Islam zu „sanft“ umgehe: „Der Islam ist geschützt… bis zur Absurdität “, sagte die ehemalige Priesterin der Schwedischen Kirche und SD-Unterstützerin Helena Edlund. Während die SD-Partei immer noch Schwierigkeiten hat, Koalitionen zu bilden, und im schwedischen Reichstag ziemlich isoliert bleibt, hat sie dennoch einen deutlichen Anstieg an Unterstützung erhalten und wurde 2018 die drittgrößte politische Partei.

Viele Expert*innen sagen, dass ein Hauptgrund für diese wachsende Unterstützung in einigen Kreisen die weit verbreitete Befürchtung ist, dass der Islam - den viele als starke, regelgetriebene religiöse Kultur wahrnehmen - die säkulare schwedische Kultur verdrängen oder dominieren und sie dabei völlig verändern würde. Da die schwedische muslimische Bevölkerung bis 2050 voraussichtlich 21% erreichen wird, werden die Debatten über die säkulare Kultur Schwedens immer polarisierter.

Eine zunehmende Polarisierung ist jedoch das Gegenteil von dem, was Schweden gerade braucht. Wenn das Land sein selbsternanntes Image als tolerante, egalitäre Gesellschaft bewahren will, muss es kritisch darüber nachdenken, inwieweit seine besondere Ausprägung des Säkularismus vom eigenen religiösen Erbe geprägt ist. Die Frage ist natürlich, ob es wirklich darüber nachdenken möchte.

[1] Es ist zu beachten, dass die gemeldeten Zahlen zu Religionszugehörigkeiten in Schweden nur Schätzungen sind, da das schwedische Recht die Registrierung von Personen aufgrund ihrer Religion verbietet.

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