404-Policy Not Found: Schweden und die Feministische Außenpolitik

, von  Marie Giebler, Pontus Hansson, übersetzt von Moritz Hergl

Alle Fassungen dieses Artikels: [Deutsch] [English]

404-Policy Not Found: Schweden und die Feministische Außenpolitik
Screenshot der Webseite der schwedischen Regierung

Kennst Du die Situation, wenn Du fieberhaft im Internet nach etwas suchst, sei es ein altes Video, ein Beitrag oder ein Artikel, und immer wieder in der Sackgasse des 404-Fehlers landest? Genau das ist uns passiert, als wir auf der offiziellen Regierungsseite der schwedischen Regierung nach dem Handbuch zur feministischen Außenpolitik der schwedischen Regierung suchten. Und nicht nur das Handbuch selbst befindet sich nicht mehr auf der Seite der neuen Regierung, die seit 2022 im Amt ist, sondern auch die Feministische Außenpolitik (Feminist Foreign Policy, FFP) selbst wird nirgends mehr erwähnt.

Ziemlich radikal, wenn man bedenkt, dass Schweden das erste Land war, das diese Form der Außenpolitik eingeführt hat. Also haben wir uns auf die Suche gemacht nach dem, was diese FFP war und was von ihr heute noch übrig ist. Immer mehr haben wir uns gefragt, wie wichtig es ist, die eigene Außenpolitik als „feministisch“ zu bezeichnen. Was sind die Vorteile? Was sind die Nachteile? Und ist eine feministische Außenpolitik möglich, ohne sie so zu nennen?

Was ist Feminist Foreign Policy überhaupt?

FFP hat viele Formen und Nuancen, weshalb es schwierig ist, eine allgemeingültige Definition zu finden. Man hört viel darüber, weil viele europäische Länder wie Deutschland sich der FFP verschrieben haben. Doch was bedeutet sie konkret? Das Handbuch eines Landes mit einer selbsternannten FFP wäre der ultimative Hinweis und die beste Möglichkeit, die Definition und die damit verbundenen Werte zu verstehen – wenn man es nur finden könnte …

Die feministische Außenpolitik hat sich aus den Frauen-, Friedens- und Sicherheits-Rahmenwerken der Vereinten Nationen entwickelt und besteht im Kern darin, die Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung von Frauen im auswärtigen Handeln und in der Außenpolitik zu fördern. Wenn man sich konkrete Richtlinien ansieht, kann man einige gemeinsame Themen in den Bereichen der Geschlechtergleichheit finden, wie gleiche Bezahlung oder Beschäftigungsparität. Oder auch im Bereich von Entwicklung und humanitärer Hilfe mit Programmen, die die Gleichstellung der Geschlechter fördern. Mehrere Länder legen außerdem Wert auf wirtschaftliche Rechte, die Ermächtigung und Landrechte sowie das Eigentum von Frauen. Auch die Zunahme der Rolle von Frauen in der Friedenssicherung und das Thematisieren von unbezahlter Pflegelast gehören zur FFP.

Aber FFP wiederholt nicht nur binäre Muster von Männern und Frauen, sondern legt den Fokus auf alle marginalisierten Gruppen in der Gesellschaft, die aufgrund von Strukturen, die im Laufe der Zeit aufgebaut wurden, zum Schweigen gebracht und unterdrückt wurden, wie die LGBTIQ+-Community.

Da Schweden das erste Land war, das eine feministische Außenpolitik eingeführt hat, werfen wir einen Blick auf das dortige Verständnis davon und darauf, wie die Regierung die Kennzeichnung als FFP für wichtig erachtet.

Schwedens feministische Außenpolitik

Als die schwedische Regierung, bestehend aus Sozialdemokraten und Grünen, 2014 beschloss, das Label FFP anzunehmen, waren sie Pioniere auf steinigem und unwirtlichem Terrain. Schweden verfügte mit seiner Außenministerin Margot Wallström über eine herausragende Persönlichkeit, die die Stränge der feministischen Idee vereinte. Doch sie stieß auf große Skepsis und die feministische Außenpolitik wurde als utopisch bezeichnet. Die schwedische Regierung ließ sich jedoch nicht beirren und definierte die Konzepte, die jeder für so schwer fassbar hielt. Vom 404-Fehler “Seite existiert nicht” war Schweden zum 101-Success gewechselt: “Handbuch gefunden”!

In diesem Handbuch wurde die FFP als „eine Arbeitsmethode und eine Perspektive, die drei Rs als Ausgangspunkt nimmt und auf einem vierten R basiert“ beschrieben. Diese 3 Rs stehen für:

Repräsentation wurde nicht nur durch eine Figur wie Margot Wallström erreicht, sondern auch mit einer hohen Anzahl von Frauen, die als leitende Angestellte in Botschaften und in Entscheidungsgremien angestellt waren. Zwar war das eine innerschwedische Angelegenheit, doch gleichzeitig hatte das Auswirkungen auf die Welt außerhalb. Bei der Organisation von Veranstaltungen weltweit wurde darauf geachtet, dass Frauen vertreten sind. „Weibliche Referentinnen, weibliche Teilnehmerinnen, weibliche Expertinnen – um sicherzustellen, dass nicht nur wir durch Frauen vertreten sind, sondern auch die Beteiligung von Frauen auf der anderen Seite des Tisches fördern und sicherstellen“, sagt Jakob Dalunde, Mitglied des Europäischen Parlaments (Grüne/ EFA) rückblickend über die Strategie.

Ressourcen sind das zweite der drei R, denn Geld regiert die Welt. Tatsächlich werden Ressourcen nicht nur in Geld ausgedrückt, sondern auch in Bezug auf Soft Skills. Es heißt, dass zu der Zeit als die feministische Außenpolitik galt, 90 Prozent der öffentlichen Entwicklungshilfe Schwedens für die Gleichstellung der Geschlechter ausgegeben wurden. Ziel war es, die geschlechtsspezifische Budgetierung genau unter die Lupe zu nehmen und Möglichkeiten zu finden, mehr Programme, Schulungen oder Projekte zu finanzieren, die in erster Linie Frauen befähigen, verteidigen oder ausbilden. Ein Beispiel war das Training gegen geschlechtsspezifische Gewalt in Flüchtlingslagern, so Jakob Dalunde. Vor allem Aufseher wurden geschult, um sicherzustellen, dass sie selbst keine Gefahr für Frauen und Mädchen darstellen und sie aufgrund ihrer äußerst gefährdeten Situation gezielt beschützen.

Rechte für Mädchen und Frauen auf der ganzen Welt ist die letzte Säule der FFP und basiert auf internationalen Rahmenwerken wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, den Erklärungen und Aktionsplänen der UN-Weltfrauenkonferenz und einigen mehr. Doch was bedeutet das in der Praxis? Zweimal hatte Schweden die Gelegenheit, sich international für die Rechte der Frauen einzusetzen. Einmal in den Jahren 2017/18, als das Land einen Sitz im UN-Sicherheitsrat innehatte, und das zweite Mal im Jahr 2021 mit dem Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). In letzterem Fall setzte Schweden eine Beratergruppe für Frauen, Frieden und Sicherheit (WPS) und einen Sonderbeauftragten für Geschlechterfragen ein und führte Treffen nicht nur auf hoher Ebene, sondern auch mit lokalen Frauenrechtsorganisationen durch.

Wirklich? Ein R übrig? Ja, denn das alles muss auch überwacht und überprüft werden.

Realität. Um sicherzustellen, dass es sich bei all dem oben Erwähnten nicht nur um eine wunderschöne imaginäre Blase handelt, wurde großer Wert darauf gelegt, einen echten Bezug zur empirischen Forschung herzustellen. Solche Forschung soll die Grundlage für die Maßnahmen und Richtlinien bilden und die gesamte Realität der Gesellschaft erfassen, das heißt zum Beispiel, bei der Datenerhebung ALLE Stimmen und Perspektiven zu hören.

Welche Bedeutung hat die Kennzeichnung als FFP?

Letztendlich war das Label FFP ein klares Zeichen für eine Verpflichtung. So klang es schön und schick, und die ganze Welt schimpfte darüber, dass Schweden so “extra” sei. Es war einerseits ein Statement und andererseits ein Versuch. Und es war definitiv eine Bezeichnung, die auf einen Prozess hinwies, denn wenn man etwas immer noch als explizit feministisch bezeichnen muss, zeigt das, dass es immer noch Hierarchien zu überwinden gilt. Es begannen Konversationen, die vorher nicht geführt wurden. Und so verlagerte sich der Fokus weg von einem traditionell männerdominierten Bereich der Machtpolitik hin zu einer von unten nach oben gerichteten, inklusiveren und auf die menschliche Sicherheit ausgerichteten Außenpolitik.

Überschattet das Label den Inhalt?

Lasst uns in das Jahr 2022 springen: FEHLER 404 - “Keine FFP gefunden in Schweden”. Mit der Wahl und dem Machtwechsel übernahm eine neue, auf konservativen Idealen basierende Regierung die Landesgeschäfte. Die neue Regierung trat einen Schritt zurück und rief im Herbst 2022 die feministische Außenpolitik zurück. In einem Interview bekräftigte Tobias Billström, schwedischer Außenminister, dass sein Land immer für Gleichberechtigung eintreten würde, dass aber die Etikettierung feministischer Außenpolitik den Inhalt der Politik überschattet habe.

Laut einem Mitglied der Regierung, mit dem wir sprechen konnten, ist dies auch immer noch der Fall und Gleichstellung sei immer noch ein Hauptschwerpunkt der auswärtigen Arbeit der Regierung. Ebenso erklärte ein Mitarbeiter der schwedischen Botschaft in Berlin, dass die Änderung der Politik ihre Arbeit nicht verändert habe, gefolgt von der Aussage „Was gelernt wurde, kann nicht vergessen werden“, was sich auf die Arbeit im Bundesdienst bezog. Sogar staatlich finanzierte Agenturen gaben an, dass ihre Arbeiten bisher von der Änderung nicht betroffen seien.

Es gibt weitere Hinweise, die die Annahme stützen, dass die Änderung die praktischen Beiträge Schwedens zur internationalen Gemeinschaft nicht beeinträchtigt hat. Das International Center for Research on Women ordnet jedes Land in einem Index anhand ihrer feministischen Ausrichtung. Im Dezember 2022 erreichte Schweden die höchste Punktzahl aller Länder. Allerdings erfolgte die Wertung nur wenige Monate nach dem Übergang in eine neue Regierung und höchstens zwei Monate nach Tobias Bilströms Äußerungen zur Abschaffung der feministischen Außenpolitik. Das bedeutet, dass es unwahrscheinlich ist, dass die Politik der neuen Regierung Zeit gehabt hätte, um die Punktzahl zu beeinflussen.

Zur interaktiven Grafik des FFP Indexes geht es HIER

Im Mai dieses Jahres fragte das Schwedische Radio alle Minister*innen der aktuellen Regierung, ob sie sich als Feminist*innen bezeichnen, und die Antwort war recht unterschiedlich. Nur 13 von 24 Minister*innen sagten, dass sie sich selbst so bezeichnen würden, wobei vier unentschlossen waren und weder Ja noch Nein sagten. Von den übrigen sieben sagten alle, dass Gleichberechtigung ein zentraler Bestandteil der Regierungspolitik sei, sie würden sich jedoch nicht als feministisch bezeichnen. Außenminister Tobias Billström führte weiter aus, dass das Etikett der FFP aufgrund der Vielfalt an Definitionen und ideologischen Standpunkten, die tatsächliche Politik in den Schatten stelle. Doch wie berechtigt ist diese Kritik?

Feministische Außenpolitik: Nur „Plakatpolitik“?

Andere Organisationen kritisierten die Idee einer feministischen Außenpolitik als „Plakatpolitik“ oder Purplewashing. Unter Purplewashing versteht man den Einsatz von Strategien, die den Feminismus und die Gleichstellung der Geschlechter für politische oder Marketingzwecke nutzen. Der Begriff wird verwendet, um die Ausbeutung des Feminismus zur Rationalisierung diskriminierender Politik anzuprangern, indem auf die vergleichsweise schlechteren Bedingungen für Frauen in anderen Kulturen hingewiesen wird. Die Kritik bezieht sich darauf, dass die Regierung selbst während der Zeit, als Schweden eine FFP hatte, einige außenpolitische Entscheidungen getroffen hat, die aus feministischer Sicht fragwürdig waren – hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Sicherheits- und Einwanderungsaspekt der Außenpolitik. Wie bereits erwähnt liegt Schweden mit einem Gesamtwert von 0,78 Punkten an der Spitze des FFP-Index. Bezogen auf die Migration liegt der Index jedoch nur bei 0,6 von 1 Punkten. Hier ist jedoch wichtig zu beachten, dass der durchschnittliche Wert in dieser Kategorie global nur 0,38 beträgt. Die hier an Schweden geübte Kritik bezieht sich auf Änderungen der Asylgesetze, die eine Familienzusammenführung von Asylbewerber*innen nahezu unmöglich machen. Darüber hinaus exportierte Schweden weiterhin Kriegsmaterial in undemokratische Länder wie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate – Länder, die nicht für ihre feministischen Bemühungen bekannt sind.

Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels gab es somit keine großen Unterschiede aufgrund der Änderung der Außenpolitik. Auch der NATO-Beitrittsprozess und die damit verbundenen Maßnahmen wurden unabhängig von der Frage nach der feministischen Außenpolitik behandelt.

Lohnt sich eine Kennzeichnung als “feministisch”?

Die Kennzeichnung einer Außenpolitik als „feministisch“ ermöglicht es einerseits, die Regierung für ihre Taten zur Rechenschaft zu ziehen. Insbesondere durch die klaren Leitlinien, die im Handbuch angegeben sind, kann man die Richtlinien oder deren Fehlen kritisieren. Das ist zu ihrer Zeit auch in Schweden passiert. Concord Sweden, eine Plattform von 16 schwedischen zivilgesellschaftlichen Organisationen, kritisierte in ihrer Bewertung die Migrationspolitik, die geschlechtsspezifischen Schwachstellen in der internationalen Klimapolitik und die Handelspolitik, da Schweden weiterhin Waffen nach Saudi-Arabien und andere autoritäre Staaten exportierte . Es ist somit ein leistungsstarkes Instrument für die Zivilgesellschaft, um die Versprechen der Politiker*innen und die späteren tatsächlichen Ergebnisse zu messen.

Andererseits muss auch die Kritik in Bezug auf Purplewashing und des Versteckens besonders fragwürdiger Maßnahmen hinter dem Wort Feminismus ernst genommen werden. Jede Regierung, die eine FFP für sich selbst beansprucht, sollte über ihre Aktionen auch selbst reflektieren. Concord Sweden betont, dass die Bezeichnung „feministisch“ nicht Perfektion bedeutet, sondern ein Indikator dafür ist, welchen Weg eine Regierung eingeschlagen hat und dass sie das Ziel noch nicht erreicht haben. Es ist ein Versprechen zur Hingabe, es ist ein Versprechen zum Lernen und es ist ein Versprechen, mit Kritik umzugehen.

Wir sind davon überzeugt, dass das FFP-Label nicht nur wegen der darauf folgenden Richtlinien wichtig ist, sondern auch, weil es ein Signal des Engagements aussendet und Frauen und Minderheiten ermutigt, ihren Kampf für Rechte, Ressourcen und Repräsentation fortzusetzen. Wir glauben, dass Schweden durch die FFP mit einer inklusiveren Stimme auf globaler Ebene sprechen kann und dass der Wechsel der neuen Regierung ein klares Signal in die andere Richtung sendet. Auch wenn sie beschwichtigen, dass ihre außenpolitische Arbeit mit den Lehren, Prozessen und Verpflichtungen, die sie unter einer FFP hatten, fortsetzen werden, bedeutet der Rückzug einen Verzicht auf ein langfristiges Engagement und einen Schritt zurück von einer klaren Abgrenzung von der Anti-Rechte- und Anti-Gender-Agenda.

Dieser Artikel ist Teil des Projekts “Newsroom Europe”, das junge Europäer*innen aus drei EU-Mitgliedstaaten (Deutschland, Schweden & Spanien) trainiert, kritisch und reflektiert über europäische Entscheidungsfindung zu berichten. Das Projekt wird gemeinsam von der Europäischen Akademie Berlin e.V., den Museen für Weltkultur Schweden, und der Friedrich Naumann Stiftung Spanien durchgeführt, und wird von der Europäischen Union ko-finanziert.

Schlagwörter
Ihr Kommentar
Vorgeschaltete Moderation

Achtung, Ihre Nachricht wird erst nach vorheriger Prüfung freigegeben.

Wer sind Sie?

Um Ihren Avatar hier anzeigen zu lassen, registrieren Sie sich erst hier gravatar.com (kostenlos und einfach). Vergessen Sie nicht, hier Ihre E-Mail-Adresse einzutragen.

Hinterlassen Sie Ihren Kommentar hier.

Dieses Feld akzeptiert SPIP-Abkürzungen {{gras}} {italique} -*liste [texte->url] <quote> <code> et le code HTML <q> <del> <ins>. Absätze anlegen mit Leerzeilen.

Kommentare verfolgen: RSS 2.0 | Atom